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Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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Neuguinea, ich glaub’s ja wohl, du weißt ja kaum die Hauptstadt von Irland, obwohl du da lebst. Wenn du nicht Alkoholiker wärst, dann wärst du auch nie aus der Clanbrassil Street herausgekommen. Man kann ja wohl kaum sagen, dass du weit in der Welt herumgekommen bist...«
    »Könnt ihr mal leise sein, ich versuche hier, meine Lebensgeschichte zu schreiben«, sagte ich gutmütig.
    »Warum gehst du nicht in den Leseraum, da ist es leiser«, sagte Chris.
    Einerseits wollte ich einfach bleiben, wo ich war, und ihn bewundern, andererseits wollte ich mich für diesen Vorschlag dankbar zeigen.
    »Meinst du nicht?«, sagte er mit einem Lächeln. »Da klappt das bestimmt viel besser.«
    Mehr brauchte er nicht zu sagen.
    Aber sobald ich mich hinsetzte und mit meiner Lebensgeschichte anfing, ich meine, als ich wirklich etwas zu Papier zu bringen versuchte und nicht nur einfach vor dem leeren Blatt saß, begriff ich plötzlich, warum die anderen, als ich an meinem ersten Abend in den Leseraum kam, an den Tischen saßen, mit den Händen auf die Tischplatte schlugen, die Blätter zusammenknüllten und an die Wand warfen und voller Verzweiflung ausriefen: »Ich kann das nicht!«
    Als ich mir die Fragen ansah, stellte ich fest, dass ich sie aus tiefstem Herzen nicht beantworten wollte.

37
    W as war meine früheste Erinnerung?, fragte ich mich, während ich auf die leeren Blätter vor meiner Nase starrte. Es gab eine Menge, die dafür in Frage kamen. Vielleicht die, als Margaret und Claire mich in einen Puppenwagen setzten und ihn dann mit Höchstgeschwindigkeit durch die Gegend schoben. Ich erinnerte mich daran, wie ich in den viel zu engen Puppenwagen gequetscht wurde und die Sommersonne mich blendete, als ich zu Margarets und Claires lachenden Gesichtern unter den familienüblichen braunen Topfschnitten hinaufsah. Ich erinnerte mich genau daran, wie sehr ich mein Haar hasste und mir inbrünstig goldene Engelslocken wie Angela Kilfeather wünschte.
    Oder als ich auf kleinen Knubbelbeinen hinter Margaret und Claire herlief und mich anstrengte, mit ihnen Schritt zu halten, worauf sie nur sagten: »Geh du wieder nach Hause, du bist zu klein, du kannst nicht mitkommen.«
    Oder wie sehr ich Claires taubenblaue Lacksandalen bewunderte, die einen Riemen um den großen Zeh hatten und einen um das Fußgelenk und die – das war das Beste daran – eine weiße Lackblume auf dem Zehriemen hatten.
    Vielleicht war meine erste Erinnerung die, als ich Margarets Osterei aufaß und wir alle ausgesperrt wurden.
    In dem Moment kam es mir so vor, als wäre das Licht im Leseraum gedämpft worden. O Gott, auch jetzt, dreiundzwanzig Jahre später, hatte ich genau das gleiche unwirkliche Gefühl wie damals. Keinesfalls kam es mir so vor, als sei es dreiundzwanzig Jahre her, eher so, als sei es gestern passiert.
    Es war ein Beano-Osterei, daran erinnerte ich mich deutlich. Heute gibt es keine Beanos mehr, dachte ich und wollte mich von der schmerzlichen Erinnerung ablenken. Ich glaube, Beanos starben irgendwann in den siebziger Jahren aus. Wahrscheinlich könnte ich Eamonn fragen. Beanos waren phantastisch, so ähnlich wie Smarties, nur in leuchtenderen, aufregenderen Farben.
    Margaret hatte ihr Osterei aufgehoben, und inzwischen war es September. Typisch Margaret. Ihre Fähigkeit, Dinge aufzuheben, brachte mich zum Wahnsinn.
    Ich war das genaue Gegenteil. Wenn wir sonntags jede eine Packung Cadbury’s-Schokolade bekamen, konnte ich kaum warten, bis ich die Verpackung aufgerissen hatte und mir den Riegel in den Mund stopfen konnte. Und wenn ich meinen aufgegessen hatte, war ihrer noch unangerührt. Dann tat es mir natürlich leid, dass ich meinen nicht aufgehoben hatte, und ich wollte ihren.
    Monatelang stand das Osterei auf unserem Kleiderschrank und blinzelte mir ständig mit seinem roten Knisterpapier zu. Ich begehrte es mit jeder Faser meines kleinen, runden Körpers. Ich kam nicht mehr davon los.
    »Wann wirst du es essen?« fragte ich zum Beispiel und versuchte, so zu tun, als wäre es mir gleichgültig. Als hätte ich nicht das Gefühl, dass ich tot umfallen würde, wenn sie es nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten verspeiste.
    »Ach, ich weiß noch nicht«, sagte sie gelassen mit ihrer unglaublichen Selbstbeherrschung.
    »Wirklich nicht?«, fragte ich mit angestrengter Gleichgültigkeit. Es war lebenswichtig, niemanden jemals erahnen zu lassen, was man wirklich wollte. Denn wenn es jemand wusste, würde er es einem auf keinen Fall

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