Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
Vom Netzwerk:
Novocain war! Ich wünschte mir nur, dass es auf den ganzen Körper angewendet werden könnte. Und auf meine Gefühle.
    Die angenehme Empfindung hielt nicht lange an. Mir fielen wieder alle möglichen schrecklichen Geschichten ein, die ich über Zahnärzte gehört hatte. Die von Fidelma Higgins, die ins Krankenhaus kam, wo man ihr vier Weisheitszähne entfernen sollte. Nicht nur wurden ihr die Weis- heitszähne nicht gezogen, sondern es wurde ihr stattdessen ihre völlig gesunde Bauchspeicheldrüse herausoperiert. Oder die von Claire, der ein Zahn gezogen werden musste, dessen Wurzeln so kräftig waren, dass sich der Zahnarzt nach Claires Schilderung mit einem Fuß auf ihrer Brust abstemmen musste, um eine ausreichende Hebelwirkung erzielen zu können. Und dann war da – das gefundene Fressen für Menschen mit einer Zahnarztphobie – die Zahnarztszene im Marathon Man. Ich hatte den Film gar nicht gesehen, aber das machte nichts. Ich hatte genug darüber gehört, dass mir bei der Vorstellung, diesem Mann und seinem Bohrer und entsetzlichen Schmerzen ausgeliefert zu sein, speiübel wurde.
    »Gut, die Betäubung müsste jetzt wirken«, sagte Dr. O’Dowd und unterbrach den Horrorfilm, der in meinem Kopf ablief. »Dann wollen wir mal.«
    »Was ... was ist eigentlich eine Wurzelfüllung?« Ich wollte ganz gern wissen, was er mit mir vorhatte.
    »Wir nehmen das Innere des Zahns heraus, einschließlich des Nervs, und höhlen ihn komplett aus«, sagte er fröhlich. Darauf fing er voller Energie zu bohren an, wie jemand, der ein Regal anbringen will.
    Bei dem Gedanken an das, was er vorhatte, zog ich die Schultern vor Anspannung bis zu den Ohren hinauf. Ich würde unerträgliche Schmerzen erleiden. Und es würde ein Loch bis in mein Gehirn entstehen, dachte ich, während sich mein Magen vor Übelkeit zusammenkrampfte.
    Kurz darauf fingen die Nerven in all meinen anderen Zähnen an zu hüpfen und zu tanzen. Ich zwang mich abzuwarten – ungefähr vier Sekunden –, bis ich es nicht länger aushielt und ihm ein Handzeichen gab.
    »Jetzt tun mir alle meine Zähne weh«, konnte ich gerade noch murmeln.
    »Jetzt schon?«, fragte er. »Es ist erstaunlich, wie schnell ihr Drogensüchtigen Schmerzmittel resorbiert.«
    »Bei denen geht es schneller?«
    »Bei euch geht es schneller, in der Tat.«
    Er gab mir eine neue Spritze. Sie war schmerzhafter als die erste, weil das Gewebe schon angegriffen war. Dann ließ er wieder den Bohrer aufheulen, als wäre es eine Kreissäge, und bohrte weiter.
    Es dauerte Stunden.
    Zweimal musste ich ihn bitten aufzuhören, weil ich die Schmerzen nicht mehr aushielt. Aber beide Male sah ich ihn kurz darauf mit tapferem Lächeln an und sagte: »jetzt geht es, Sie können weitermachen.«
    Als ich endlich zu Margot ins Wartezimmer stolperte, fühlte sich mein Mund an, als wäre ein Lastwagen hindurchgefahren, aber die Zahnschmerzen waren verschwunden, und ich war ungeheuer stolz auf mich.
    Ich hatte es überstanden, ich hatte überlebt und fühlte mich großartig.
    »Warum meine Zähne wohl gerade jetzt aufmucken?«, murmelte ich auf der Rückfahrt vor mich hin.
    Margot warf mir einen prüfenden Blick zu. »Das ist bestimmt kein Zufall«, sagte sie.
    »Wieso nicht?«, fragte ich überrascht.
    »Überlegen Sie doch mal«, sagte sie. »Soweit ich weiß, sind Sie gestern in der Gruppensitzung einen wichtigen Schritt vorangekommen ...«
    Wirklich?
    »... aber Ihr Körper will Sie von dem seelischen Schmerz, den Sie fühlen müssten, ablenken und gibt Ihnen stattdessen körperliche Schmerzen. Mit körperlichen Schmerzen kommt man viel leichter klar.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass ich eine Show abziehe?«, fragte ich erregt. »Dann reden Sie doch mal mit dem Zahnarzt, der wird Ihnen schon erzählen, was ...«
    »Ich sage nicht, dass Sie eine Show abziehen.«
    »Aber was meinen ...?«
    »Ich sage nur, dass Ihr Wunsch, sich Ihrer Vergangenheit nicht stellen zu müssen, so stark ist, dass Ihr Körper diesem Wunsch nachkommt und Ihnen andere Gründe gibt, sich Sorgen zu machen.«
    Herr im Himmel!
    »Ich habe die Schnauze voll davon, dass immer so viel in alles hineininterpretiert wird«, sagte ich heftig. »Ich hatte Zahnschmerzen, mehr nicht, basta.«
    »Sie hatten die Frage nach dem Zeitpunkt gestellt«, erinnerte Margot mich freundlich.
    Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.

    Bei meiner Rückkehr nach Cloisters wurde ich begrüßt, als wäre ich mehrere Jahre fortgewesen. Fast alle – außer

Weitere Kostenlose Bücher