Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
musste.
»Nicht jeden Tag, sozusagen«, fuhr er fort, »aber doch an den meisten Abenden, haha.«
Ich nickte unglücklich.
»Aber niemals, wenn ich am nächsten Morgen eine sichere Hand am Bohrer brauche, haha.«
Mein Blick wanderte sehnsuchtsvoll zur Tür.
»Aber wenn ich einmal anfange, kann ich nicht mehr aufhören, verstehen Sie, was ich meine?«
Ich nickte angsterfüllt. Besser, ich widersprach ihm nicht.
Tun Sie mir bitte nicht weh.
»Und dann, irgendwann im Laufe des Abends, stelle ich fest, dass ich mich nicht weiter betrinken kann. Verstehen Sie, was ich meine?«
Er brauchte meine Bestätigung gar nicht.
»Und die Niedergeschlagenheit danach. Kommen Sie mir bloß nicht damit.« Er sprach mit Leidenschaft. »Oft wünsche ich mir, ich wäre tot.«
Er hörte auf zu klopfen und zu kratzen, ließ aber das spitze Ding und den Spiegel in meinem geöffneten Mund. Er legte seine Hand an mein Gesicht und sah mich nachdenklich an. Offensichtlich stellte er sich auf eine lange Unterhaltung ein.
»Manchmal, nach einem ausschweifenden Abend, habe ich sogar an Selbstmord gedacht«, vertraute er mir an. Ich spürte, wie mir der Speichel langsam am Kinn herunterlief, aber ich befürchtete, unhöflich zu sein, wenn ich ihn wegwischte. »Unter Zahnärzten gibt es die höchste Selbstmordrate, können Sie sich das vorstellen?«
Ich bemühte mich, einen verständnisvollen Blick aufzusetzen, und zog die Augenbrauen hoch.
»Es ist ein ganz schön einsames Leben, wenn man den Leuten tagein, tagaus im Mund rumfummeln muss.« Das Rinnsal Speichel verwandelte sich zusehends in einen Sturzbach. »Tagein, tagaus, verdammt noch mal.«
Er ahmte eine weinerliche Stimme nach: »›Mein Zahn tut weh, können Sie mir helfen? Ich habe solche Zahnschmerzen, helfen Sie mir!‹ Ich höre den ganzen Tag nichts anderes: Zähne, Zähne, Zähne!«
Himmel, er ist übergeschnappt.
»Ich war mal bei ein paar AA-Treffen, wollte einfach mal sehen, was die so machen.« Er sah mich um Verständnis heischend an, ich erwiderte den Blick.
Bitte, lassen Sie mich gehen.
»Nicht meinetwegen«, erklärte er. »Ich habe ja schon gesagt, ich trinke nicht jeden Tag. Und nie morgens. Außer wenn ich zu sehr zittere, das ist klar.«
»Aaar«, sagte ich ermutigend.
Sprich mit deinem Kerkermeister, baue eine Beziehung auf, versuche, ihn auf deine Seite zu ziehen.
»Meine Frau hat gedroht, mich zu verlassen, wenn ich das Trinken nicht sein lasse«, fuhr er fort. »Aber wenn ich das täte, hätte ich das Gefühl, dass mir nichts mehr bleibt, dass mein Leben vorüber ist. Dann könnte ich ebensogut tot sein. Verstehen Sie, was ich meine?«
Dann schien er wieder zu sich zu kommen.
Und er bedauerte es, dass er sich vor mir diese Blöße gegeben und seine Schwäche gezeigt hatte.
Hastig versuchte er, seine Überlegenheit wiederherzustellen.
»Jetzt werde ich Ihnen eine kleine Spritze geben, aber damit kennen Sie sich ja aus, was?«, lachte er heiser. »Nichts ist mir lieber, als wenn ein Junkie in meinem Stuhl sitzt. Die meisten Leute fürchten sich vor der Nadel! Hahaha.
Hier, wollen Sie sie sich selbst setzen? Hahaha.
Haben Sie Ihr Spritzbesteck gleich mitgebracht? Hahaha.
Wenigstens brauchen Sie sich die Nadel mit keinem anderen zu teilen, ahahahahaha!«
Vor Angst bekam ich einen Schweißausbruch, denn er irrte sich: Ich hatte eine furchtbare Angst vor Spritzen und war wie gelähmt angesichts der vor mir liegenden Tortur.
Ich wurde stocksteif, als er meine Oberlippe anhob und die Nadel in das weiche Zahnfleisch stach. Und während die kalte Flüssigkeit in mich hineinströmte, stellten sich meine Haare vor Ekel auf. Je länger die Nadel im Zahnfleisch blieb, desto mehr tat der Einstich weh. Ich dachte, es würde nie aufhören.
Ich warte noch fünf Sekunden, sagte ich mir mit äußerster Willenskraft, dann muss er damit aufhören.
Als ich vor Schmerz aufschreien wollte, hörte er auf.
Inzwischen war mir klar geworden, dass ich viel zu feige war, um weitere zahnärztliche Eingriffe in meinem Mund zu erlauben. Lieber würde ich mich mit Zahnschmerzen herumquälen.
Doch als ich gerade aufspringen und an ihm vorbei aus der Praxis stürzen wollte, kroch das wunderbare Prickeln der Betäubung durch meine Lippe in die eine Gesichtshälfte hinein und breitete sich mit besänftigenden Fingern aus.
Es war ein Wohlgefühl sondergleichen. Ich liebte es über alles. Ich schmiegte mich in den Stuhl und genoss es. Was für ein großartiges Mittel doch
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