Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
indem sie zu weinen anfing und sagte: »Ich kann es nicht glauben, dass Rachel drogensüchtig ist.«
Da bist du nicht die Einzige, dachte ich und fühlte mich hundeelend.
Dad übernahm die Sache. »Rachel lebt schon seit acht Jahren nicht mehr zu Hause.« Er hatte den Cowboyakzent zur Feier des Tages abgelegt. »Wir wissen also nur wenig über Drogen und dergleichen.«
Alles gelogen. Lebte Anna nicht bei ihnen?
»Das macht nichts«, sagte Josephine. »Es gibt noch viele andere Dinge, die wir gerne von Ihnen erfahren möchten. Besonders über Rachels Kindheit.«
Mum, Dad und ich wurden gleichzeitig stocksteif. Ich wusste nicht, warum. Sie hatten mich ja nicht in einen Schrank eingesperrt oder mich geschlagen oder mir nichts zu essen gegeben. Wir hatten nichts zu verbergen.
»Ich möchte etwas über eine Phase erfahren, die Rachel als besonders traumatisch erlebt hat«, sagte Josephine. »Was sie neulich in der Gruppe sehr aufgewühlt hat.«
»Wir haben ihr nichts getan«, sagte Mum und warf mir einen wütenden Blick zu.
»Das wollte ich auch nicht gesagt haben«, beschwichtigte Josephine sie. »Aber Kinder betrachten die Welt der Erwachsenen oft verzerrt.«
Mum starrte mich an.
»Haben Sie je unter Wochenbettdepressionen gelitten?«, fragte Josephine sie.
»Wochenbettdepressionen!«, schnaubte Mum. »Natürlich nicht. Wochenbettdepressionen waren damals noch gar nicht erfunden!«
Mein Herz wurde mir schwer. Kein schlechter Versuch, Josephine.
»Gab es in Ihrer Familie kurz nach Annas Geburt ein besonderes Ereignis?«, bohrte Josephine weiter.
Ich wand mich. Ich wusste ja die Antwort und wollte nichts darüber hören.
»Na«, sagte Mum vorsichtig, »zwei Monate nach Annas Geburt starb mein Vater, Rachels Großvater.«
»Und Sie waren sehr traurig?«
Mum sah Josephine an, als wäre die verrückt. »Natürlich war ich sehr traurig. Mein Vater! Natürlich war ich traurig.«
»Und wie hat sich das geäußert?«
Mum sah mich finster an. »Ich habe viel geweint, erinnere ich mich. Aber mein Vater war gestorben, da war das doch normal!«
»Was ich gern wissen würde«, sagte Josephine, »hatten Sie so eine Art Nervenzusammenbruch? Rachel erinnert sich an diese Zeit als sehr schmerzlich für sie, und es ist wichtig, dass wir der Frage nachgehen.«
»Nervenzusammenbruch?« Mum machte ein entsetztes Gesicht. »Nervenzusammenbruch! Das hätte mir gefallen, aber wie konnte ich mir das leisten, mit all den kleinen Kindern?«
»Vielleicht ist Nervenzusammenbruch das falsche Wort. Waren Sie längere Zeit bettlägrig?«
»Dazu hatte ich wohl kaum die Gelegenheit«, sagte Mum beleidigt.
In mir sagte eine kindliche Stimme: So war es aber, und ich war schuld!
»Aber erinnerst du dich an die zwei Wochen«, schaltete Dad sich ein, »als ich den Kurs machte?«
»In Manchester?«, fragte Josephine.
»Ja«, sagte er verdutzt. »Woher wissen Sie das?«
»Rachel hat davon gesprochen. Fahren Sie fort.«
»Meine Frau konnte nicht richtig zur Ruhe kommen, weil ich nicht da war, und es war erst einen Monat her, dass ihr Vater gestorben war. Deshalb kam ihre Schwester zu uns, und meine Frau konnte ein paar Tage im Bett bleiben.«
»Sehen Sie, Rachel«, sagte Josephine triumphierend. »Es war gar nicht Ihre Schuld.«
»In meiner Erinnerung ist es anders«, murmelte ich. Ich konnte mich mit dieser Darstellung der Ereignisse nicht gleich anfreunden.
»Das weiß ich wohl«, stimmte sie mir zu. »Und ich denke, es ist wichtig, dass Sie erkennen, wie Sie sich an diese Zeit erinnern. Bei Ihnen ist alles übertrieben: das Ausmaß der Katastrophe, die Zeitdauer, und vor allem Ihre Rolle darin. In Ihrer Version spielten Sie die Hauptrolle.«
»Nein.« Ich schluckte. »Nicht die Hauptrolle. Eher ... eher ...« Ich überlegte, wie ich es am besten sagen konnte. »Eher die Rolle des Bösewichts! Die Böse in der Familie.«
»Wieso denn?«, empörte sich Dad. »Böse! Was hast du denn Böses getan?«
»Ich habe Anna gekniffen«, sagte ich kleinlaut.
»Na und? Anna hat Helen gekniffen, als die zur Welt kam. Und Claire hat Margaret gekniffen, und Margaret hat dich gekniffen.«
»Margaret hat mich gekniffen?«, platzte ich heraus. Ich dachte, Margaret hätte in ihrem ganzen Leben nie etwas Schlimmes angestellt.
»Weißt du das bestimmt?«
»Aber natürlich«, sagte Dad. »Erinnerst du dich nicht?«, sagte er an Mum gerichtet.
»Ehrlich gesagt, nein«, sagte sie steif.
»Aber du musst dich erinnern«, rief er aus.
»Wenn du
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