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Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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und ich wünschte mir, ich wäre irgendwo, nur nicht hier. Ein türkisches Gefängnis wäre zum Beispiel ein guter Ort.
    Die Zeit verging sehr langsam.
    »Sie kann singen«, unterbrach Dad die beklommene Stille.
    »Das stimmt nicht«, murmelte Mum und sah ihn mit einem Blick an, der bedeutete: Halt bloß den Mund. »Das war ein Fehler.«
    Natürlich wollte Josephine die ganze Geschichte hören. Also mussten sie ihr von dem Samstagnachmittag erzählen, als ich sieben war und wir eine neue Küche bekamen. Die alte war schon abgebaut worden, und weil ich keinen zum Spielen hatte, saß ich ganz allein in dem leeren Raum, und da ich nichts anderes zu tun hatte, sang ich vor mich hin. ( Seasons in the Sun, Rhinestone Cowboy und andere Lieder für lange Autofahrten.) Mum, die oben mit einer Grippe im Bett lag, hörte mich. Und in ihrem fiebrigen Zustand, kombiniert mit der Wirkung der leeren, hallenden Küche auf meine Stimme – sie klang klar und melodiös –, war sie überzeugt, dass ihre Tochter eine zukünftige Opernsängerin war.
    Kaum eine Woche später wurde ich unter hochgesteckten Erwartungen zu einer privaten Gesangslehrerin geschickt. Die gab sich alle Mühe mit mir, bis sie nach ein paar Unterrichtsstunden das Gefühl hatte, sie könne meine Eltern nicht länger täuschen und Geld von ihnen nehmen. »Vielleicht wäre sie gut, wenn sie immer in einer Küche singen könnte, die gerade renoviert wird«, erklärte sie meiner empörten Mutter. »Aber ich bin mir nicht sicher, dass es dafür eine Garantie gibt.«
    Mum verzieh mir nie. Scheinbar dachte sie, ich hätte sie absichtlich hinters Licht geführt. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du nicht singen kannst?«, zischte sie. »Überleg mal, wie viel Geld wir rausgeschmissen haben.«
    »Aber ich habe es dir gesagt«, protestierte ich.
    »Ist nicht wahr.«
    »Doch.«
    »Das stimmt nicht.«
    Da hörte ich auf, mich zu verteidigen, weil ich Schuldgefühle hatte und dachte, ich hätte sie in die Irre geführt. Obwohl ich von Anfang an befürchtete, dass es ein großer Irrtum war, hatte ich mich doch eindeutig von der ganzen Aufregung anstecken lassen. Ich hatte unbedingt talentiert und außergewöhnlich sein wollen.
    Ich wünschte mir sehr, dass Dad es nie erwähnt hätte.
    Da es offenbar weiter nichts zu sagen gab, beendete Josephine die Sitzung.

    An jenem Abend fing ich an, meine Tasche zu packen. Nicht dass ich sie je richtig ausgepackt hätte. Sie lag immer noch auf dem Fußboden neben meinem Bett, wo ich sie hingeworfen hatte, und darin waren Strumpfhosen, Röcke, Schuhe und Jeans in einem wilden Knäuel.
    »Verreist du?«, fuhr Chaquie mich an, als ich meine gute Jacke aus dem Schrank nahm und sie in die Reisetasche warf.
    Wie Neil hatte auch Chaquie jegliche Kontrolle über sich verloren, seit sie zugegeben hatte, dass sie Alkoholikerin war. Jetzt machte sie Neil den Rang des aggressivsten Insassen von Cloisters streitig.
    Sie schimpfte und wetterte gegen jeden, besonders gegen ihren alten Kumpel, den lieben Gott. »Warum hast du mich zur Alkoholikerin gemacht?«, kreischte sie immer wieder mit himmelwärts gerichtetem Blick. »Warum mich?«
    Josephine versicherte ihr immer wieder, dass ihr Zorn ganz normal sei. Dass es alles zu dem Heilungsprozess gehöre. Allerdings war das ein schwacher Trost für mich, die ich mit Chaquie ein Zimmer teilte und ständig angeschnauzt wurde.
    »Die drei Wochen, die ich vertraglich verpflichtet bin zu bleiben, sind am Freitag um«, erklärte ich ihr nervös. »Ich wollte auch am Ende der drei Wochen abhauen«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Aber dann haben sie diesen Scheißkerl hergeholt, mit dem ich verheiratet bin, und einen Sack Flöhe aufgemacht. Dann haben sie mir mit einer gerichtlichen Verfügung gedroht, und jetzt muss ich die zwei Monate hierbleiben.«
    »Oje«, sagte ich unbeholfen. »Du wirst mir fehlen«, sagte ich und merkte, dass das tatsächlich wahr war.
    »Du mir auch«, fauchte sie mich an.

52
    A m folgenden Morgen rannten wir wie immer den Flur entlang zur Abtklause. Wir drängten uns durch die Tür, lachten und stießen uns gegenseitig aus dem Weg, um die besten Stühle zu ergattern. Überrascht stellten wir fest, dass zwei Leute schon da waren.
    Alles blieb plötzlich stehen, als ich in Zeitlupentempo begriff, dass ich den Mann kannte. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihn gesehen hatte, aber etwas an seinem Aussehen ...
    Die Nanosekunden krochen vorbei, und ich sah mir sein

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