Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
nun überhaupt nicht vorstellen.
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J edes Mal, wenn Nola mich dabei erwischte, dass ich mit einem Mann sprach, sagte sie zu ihm: »Lass bloß die Finger von ihr, sie ist komplett verrückt. Neulich ist sie angefahren worden und ist gerade noch mal so davongekommen. Sie hat erst vor ein paar Wochen mit dem Schnee aufgehört.« Dann zerrte sie mich weg. Stattdessen machte sie mich mit vielen weiblichen Süchtigen bekannt, vor denen ich anfangs eine gewisse Scheu hatte.
Aber im Laufe der Wochen fing ich an, manche der NA-Leute als meine Freundinnen zu betrachten, so wie ich nach einer kurzen Zeit in Cloisters alle Insassen richtig gern mochte. Ich traf Jeanie wieder, die schlanke, gutaussehende junge Frau, die an dem Abend in Cloisters war, als ich meine Sucht zum ersten Mal erkannte. Und ich befreundete mich mit einer kettenrauchenden Fleischerin (das war ihr Beruf, nicht ihr Hobby), die den wenig schmeichelhaften Namen Gobnet hatte.
»Kein Wunder, dass ich süchtig bin«, sagte sie, als sie sich mir vorstellte. »Mit dem Namen.« Dann wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt.
»Grundgütiger«, sagte sie mit tränenden Augen. »Wo sind meine Zigaretten?«
Nach einer Weile stellte ich fest, dass ich fast jeden Tag zu einem Treffen ging.
»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, wollte ich von Nola wissen.
»Ach nein«, sagte sie, was ich mir auch hätte denken können. »Du hast jeden Tag Drogen genommen, warum nicht jeden Tag ein Treffen? Und es ist ja nicht für immer. Nur so lange, bis es dir besser geht.«
»Aber« – ich wand mich voller Unbehagen – »sollte ich nicht versuchen, Arbeit zu finden? Ich habe richtige Schuldgefühle, weil ich nicht arbeite.«
»Aber nein.« Sie wischte das vom Tisch, als wäre schon der Vorschlag ein Witz. »Wozu willst du arbeiten? Leg dich in den Garten, lass dich von der Sonne bescheinen. Das ist das Leben, meine Gute.«
»Aber ...«
»Und was würdest du tun? Du weißt doch noch gar nicht, was du mit deinem Leben anfangen willst«, sagte sie, als wäre das etwas, worauf ich stolz sein könnte. »Irgendwann weißt du es. Kriegst du denn keine Stütze?«
Ich nickte.
»Na also!«, flötete sie. »Du hast genug Geld, um zu überleben. Betrachte diese Zeit einfach als eine Erholungsphase, als würdest du dich von einer schlimmen Grippe erholen, einer Grippe der Gefühle. Und nutze die Zeit, ein bisschen braun zu werden!«
»Wie lange?«, fragte ich. »Wie lange werde ich so leben müssen?«
»So lange, wie es dauert«, sagte sie einfach. »Schon gut, schon gut«, fuhr sie fort, als sie meine bekümmerte Miene sah. »In Cloisters haben sie gesagt, ein Jahr, oder? Konzentrier dich darauf, dass du dich ein Jahr lang erholst, und dann gucken wir, wie gut es dir geht. Du musst Geduld haben.«
Sie klang sehr überzeugend, aber um mich abzusichern, erwähnte ich Mum und Dad gegenüber, dass ich mir vielleicht eine Arbeit suchen sollte. Und der Sturm der Entrüstung überzeugte mich, dass eine Weile lang nichts dagegen einzuwenden war, wenn ich wie ein langhaariger Tagedieb lebte.
Ich war überrascht, dass ich längst nicht so oft an Drogen dachte, wie ich mir vorgestellt hatte. Und ich stellte dazu erstaunt fest, dass ich mich mit Nola, Jeanie und Gobnet ebenso gut amüsierte wie früher mit Brigit. Wir gingen zu Treffen, besuchten uns gegenseitig, gingen ins Kino oder einkaufen und trafen uns zum Sonnenbaden. Alles, was Freundinnen normalerweise zusammen machten, nur dass wir nicht tranken und keine Drogen nahmen.
Mit ihnen konnte ich mich entspannen, denn sie wussten, wie schlimm es um mich an meinem schlimmsten Punkt gestanden hatte, und sie verurteilten mich nicht. Jede meiner Geschichten über Scham und Erniedrigung übertrafen sie locker mit einer von ihren.
Zusätzlich zu den Treffen machte ich eine Psychotherapie mit einem Suchttherapeuten und hatte jeden Dienstag und Freitag eine Sitzung.
Langsam veränderte sich meine innere Landschaft. Ich befreite mich von den Umschlingungen aus Vorurteilen und inneren Gewissheiten, durch die ich mich wahrnahm wie durch Stacheldraht. Der Tag, an dem ich begriff, dass ich mich nicht für blöd halten musste, bloß weil ich eine sehr intelligente Schwester hatte, war ein ganz besonderer.
Auch meine Sicht auf meine Kindheit veränderte sich, indem der Therapeut mir half, sie zu entmystifizieren. Ähnlich wie Josephine machte er mir klar, dass ich für die Schwermut meiner Mutter nach Annas Geburt nicht
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