Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
den Anblick von Helen, die ihm aus dem Rückfenster des Autos Grimassen schnitt.
»Kommen Sie, wir gehen zum Mittagessen«, forderte er mich auf. »Und anschließend zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.«
Der Gedanke, endlich ein paar Popstars zu Gesicht zu bekommen, beflügelte mich. Obwohl Helen überzeugend argumentiert hatte, dass die Berühmtheiten vom gewöhnlichen Volk getrennt gehalten würden, kam in mir ein hoffnungsvolles Gefühl auf.
Und natürlich wäre es interessant, sich die Verrückten und die Alkoholiker, die Esssüchtigen und die Spielsüchtigen, aus denen ja die Klientel bestand, aus der Nähe anzusehen. Leichten Schrittes folgte ich also Dr. Billings die Treppe hinauf in den Speiseraum, wo er mich vorstellte, indem er sagte: »Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen Rachel vorstellen, die ab heute bei uns ist.«
Ein Meer von Gesichtern sah zu mir auf und sagte: »Hallo.« Ich ließ meinen Blick rasch über die Anwesenden gleiten, konnte aber auf Anhieb keinen Popstar ausmachen. Schade.
Es sah auch niemand aus wie in »Einer flog über das Kuckucksnest«. Außerordentlich schade.
Allerdings muss ich sagen, dass die Alkis recht freundlich wirkten. Mit großem Eifer machten sie für mich Platz am Tisch.
Der Raum war, als ich ihn mir genauer ansehen konnte, erstaunlich schlicht. Obwohl es durchaus möglich war, dass der Innenarchitekt mit dem Anstaltsgelb der Wände eine ironische Aussage über die Postmoderne beabsichtigt hatte. Und Linoleum war natürlich wieder im Kommen. Obwohl die rissigen braunen Fliesen so aussahen, als stammten sie noch aus der Vorkriegszeit.
Ich verschaffte mir einen Überblick über die »Klienten« am Tisch und schätzte ihre Zahl auf ungefähr zwanzig. Darunter waren offenbar nur fünf Frauen.
Zu meiner Rechten schaufelte sich ein dicker alter Mann das Essen in den Mund. War er esssüchtig? Der dicke junge Mann links von mir stellte sich als Davy vor.
»Hallo, Davy.« Ich lächelte würdevoll. Allzu hochnäsig wollte ich auch nicht sein. Ich würde zwar eine deutliche Distanz wahren, aber ich nahm mir vor, immer freundlich und höflich zu sein. Schließlich war das Leben dieser Menschen erbärmlich genug. Ich brauchte es nicht noch schlimmer zu machen.
»Warum bist du hier?«, fragte er.
»Drogen«, sagte ich und lachte, als wollte ich sagen: »Kannst du dir das vorstellen?«
»Sonst noch was?«, fragte Davy gespannt.
»Nein«, sagte ich verdutzt. Er schien enttäuscht und senkte den Blick auf seinen Teller. Berge von Kohlrübenmus, Kartoffeln und Koteletts.
»Und du?«, fragte ich der Höflichkeit halber.
»Spielsucht«, sagte er finster.
»Alkohol«, sagte der Mann daneben, obwohl ich ihn nicht gefragt hatte.
»Alkohol«, sagte auch der nächste Mann.
Ich hatte etwas ins Rollen gebracht. Wenn man einen nach seiner Sucht fragte, war das so, als würde man den ersten Dominostein umstoßen, und alle fühlten sich aufgerufen, ihre Sucht zu spezifizieren.
»Alkohol«, sagte der nächste Mann, den ich gar nicht sehen konnte.
»Alkohol«, kam eine Stimme aus noch weiterer Ferne.
»Alkohol«, ertönte es schwach vom Ende des Tisches.
»Alkohol.« Diesmal hörte sich die Stimme etwas näher an. Sie waren auf der anderen Seite des Tisches angekommen.
»Alkohol.« Ein bisschen lauter.
»Alkohol.« Schon recht nah.
»Alkohol«, sagte der Mann, der mir gegenüber saß.
»Und Drogen«, fügte eine Stimme weiter weg hinzu. »Das darfst du nicht vergessen, Vincent. In der Gruppe hast du erkannt, dass du auch ein Drogenproblem hast.«
»Verpiss dich, du Kinderschänder«, sagte der Mann mir gegenüber erbost. »Sei du mal ganz still, Frederick, du Fummler.«
Keiner zuckte bei dem Wortgefecht auch nur mit der Wimper. Es klang wie bei uns zu Hause beim Essen.
War Frederick wirklich ein Kinderschänder und Fummler? Das sollte ich nicht herausfinden. Wenigstens jetzt noch nicht.
»Alkohol«, sagte der nächste Mann.
»Alkohol.«
»Alkohol.«
»Drogen«, kam die Stimme einer Frau.
Drogen! Ich reckte den Hals, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie war um die fünfzig. Wahrscheinlich eine Hausfrau, die von Beruhigungsmitteln abhängig war. Schade, einen Moment dachte ich, ich hätte jemanden zum Spielen gefunden.
»Drogen«, sagte eine Männerstimme.
Ich sah ihn an, und mein Puls beschleunigte sich. Er war jung, der Erste, den ich bisher gesehen hatte, der ungefähr in meinem Alter war. Und er sah richtig gut aus. Vielleicht irrte ich mich, aber anscheinend sah er
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