Rachel ist süß (German Edition)
erwischte sich dabei, wie sie sie immer wieder minutenlang versunken anstarrte, beinahe wie in Trance.
Manchmal blieben sie wochenlang verschwunden. Dann tauchten sie an einer anderen Stelle des Himmels auf, so weit entfernt und so winzig, dass sie sich nicht sicher sein konnte. Und dann hatte Kendra in einem ihrer unruhigen Träume genau dieses Dreieck aus Licht gesehen und gespürt, wie es sie rief. Am Morgen danach hatte sie noch mehr Lakritzschnecken als sonst gegessen, den Begriff „Wahnsinn“ gegoogelt (6.820.000 Einträge) und im Freundeskreis vorsichtig nach der Adresse einer guten Psychologin geforscht. Dass sie als böse betrogenes Trennungsopfer Gesprächsbedarf hatte, wunderte zum Glück niemanden. Aber sie hatte die Telefonnummer, die eines Tages auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte, nur an ihren Monitor geklebt und nicht benutzt, da sie relativ sicher war, noch keinen unverdächtigen Gesprächsübergang von Tims Treuebegriff zu den verschwundenen Ehemännern hinzubekommen.
Sie hatte sich stattdessen ein Fernglas gekauft und begonnen, nachts regelmäßig mit dem Auto umherzufahren. Ihrem diffusen Gefühl folgend, hatte sie auf irgendwelchen Parkplätzen der ineinander übergehenden Städte angehalten und den Himmel abgesucht. Wenn sie die Punkte entdeckt hatte, tippte sie Ort und Datum in ihr Laptop und versuchte, die Quelle des Lichts zu finden.
Es hatte sich schnell herausgestellt, dass es keine leichte Aufgabe war, in fremden Städten durch nächtliche Straßen zu irren, mit nichts als drei Lichtpunkten als Orientierungshilfe. Es hatte sich auch herausgestellt, dass selbst nachts das falsche Befahren von Einbahnstrassen und Ignorieren von Ampelfarben zu teuren Strafzetteln führte. Bis sie unter diesen Umständen überhaupt nur in die Nähe der Lichtstrahlen kam, waren diese immer schon wieder erloschen. Nie blieb das Dreieck länger als vier Minuten sichtbar. Nie waren die Ampeln grün, wenn sie es brauchte. Sie hatte ihre Aufzeichnungen über das Lichtsignal schließlich ausgedruckt und an die Wand geheftet. Mitten in einem zähen Artikel über eine Seniorenwassersportgruppe, die nach der Schließung ihres Hallenbades buchstäblich mit all ihren Schaumstoffhanteln auf dem Trockenen stand, hatten ihre Augen mit scheinbar eigenem Willen die aufgespießten Zettel nach einem neuen Muster geordnet. Die Senioren hatten sich schon dem nordischen Wandern zugewandt, als sie den Artikel endlich doch noch eingereicht hatte.
In vier Fällen hatte sie die Punkte zwei Nächte vor einer Meldung in der nämlichen Stadt gesehen. In drei Fällen lagen Tatort und Signal sogar im gleichen Stadtteil. Sie wusste nicht viel über Statistik, aber es gab eine Stimme in ihr, die ihr sagte, dass das auch gar nicht nötig war. Sie hatte etwas gefunden, das zusammengehörte, das fühlte sie ganz deutlich. Und sie hatte begonnen, die Geschichte hinter diesem Gefühl zu suchen.
Das Dreieck am Himmel erlosch. Zwei Minuten und dreißig Sekunden. Ihr habt es eilig heute Abend. Sie schüttete sich die letzten Lakritztiere direkt aus der Tüte in den Mund.
Verrückt zu werden war gar nicht mehr so bedrohlich, wenn man eine Aufgabe und genug Lakritz hatte, dachte Kendra, startete den Wagen und fuhr nach Hause.
Verrückt zu werden war alles in allem doch etwas unangenehmer, als sie gedacht hatte. Vor allem aber war es phasenweise sehr langweilig und unterschied sich immer wieder beunruhigend wenig von einem Dasein in geistiger Gesundheit. Der Rest des Herbstes verging ohne eine einzige Meldung und ohne ein einziges Signal am Himmel. Auf den gut gemeinten Rat einer Freundin hin suchte sie ihre neue Wintergarderobe lustlos und eilig in übervollen Kaufhäusern zusammen und bemerkte erst an der Kasse, dass alle ausgewählten Kleidungsstücke schwarz waren. Alles Schwarze beruhigte sie neuerdings in gleichem Maße, wie es ihre Freundinnen beunruhigte. „Die schwarze Witwe geht um“, spottete ein Kollege so laut hinter ihrem Rücken, dass sie es hören musste. Sie stellte sich lächelnd vor, wie sie ihm ohne vorausgehenden Zeugungsakt den Kopf abbiss und danach leise summend in ihrem Netz schaukelte. Nachts durchstreifte sie ruhelos die umliegenden Städte, aber die unruhige, abenteuerliche Einsamkeit ihrer Nächte war ohne das Signal einfach nur noch nackte Einsamkeit. (3.590.000 Einträge). Zweimal überfuhr sie gezielt eine rote Ampel, um die Aufmerksamkeit der Ordnungshüter auf sich zu ziehen, aber
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