Rachel
und mit festem Schritt, ganz so, als ob das ihre normale Gangart wäre, ging sie mit hoch erhobenem Kopf auf den Saloon zu.
Vor der Tür des Brimestone blieb sie stehen und überlegte, wie sie die Bar betreten sollte. Seltsam, dass sie das nicht früher überlegt hatte, dachte sie unbehaglich. Einen Schüler zu Hause zu besuchen war eine Sache, aber im hellen Tageslicht so ein Etablissement zu betreten, das war etwas vollkommen anderes. Schullehrer waren angehalten, die moralischen Standards besonders hoch zu halten und sich persönlich auch danach zu richten. Man hatte schon viele Lehrer aus dem Dienst entlassen, die sich weniger verwerflich verhalten hatten. Vielleicht gibt es ja eine Hintertür, dachte sie und kaute auf ihrer Unterlippe.
»Haben Sie Ihre Meinung geändert?«, fragte Trey und riss Rachel damit aus ihren Gedanken. Er stand im Inneren des Saloons und hielt die eine Seite der Schwingtür weit für Rachel geöffnet. »Die Sache ist für Emma mächtig wichtig.«
Rachel war entrüstet, dass er ihr zuzutrauen schien, sie könnte so feige und unhöflich sein, kurzerhand vor der
Tür einer Schülerin kehrt zu machen und den Besuch abzublasen. »Ich habe mich nur gefragt«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »ob es noch einen anderen Eingang gibt.«
Ein Grinsen umspielte seine Lippen. »Natürlich gibt es noch einen anderen Eingang«, meinte er. »Sie hätten ihn ganz einfach gefunden, wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, hinter dem Saloon nachzusehen. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass sich Hintertüren meistens auf der Rückseite der Gebäude befinden. Aber da Sie sich ja nun schon mal hier vor der Vordertür produziert haben, können Sie auch diesen Eingang benutzen.«
Mit der Grazie einer Königin schritt sie an ihm vorbei, obwohl Rachel sich mit ihrer Statur von einsfünfundfünfzig gar nicht königlich vorkam. Sobald sie im Saloon stand, blickte sie sich neugierig um, denn natürlich hatte sie noch nie einen Fuß über die Schwelle eines solchen Etablissements gesetzt. Sie war immer offen für neue Eindrücke, die sie in sich aufsaugte und sammelte, wie andere Menschen Briefmarken sammelten oder sich ein Album für getrocknete Blumen anlegten.
Es brannten keine Lampen und im schummrigen Dämmerlicht wirkte der langgezogene Raum so geheimnisvoll, wie Rachel sich das Innerste eines Harems vorstellte und die Geheimkammer eines Märchenschlosses. Es gab zwei große Tische für Pool-Billard sowie einige kleinere Tische, einige nur mit nackten rohen Tischplatten; wahrend andere mit Filz bespannt waren. An der einen Wand stand ein Roulette-Rad - und dadurch wurde natürlich Rachels naive Annahme, dass unter Treys Dach kein Glücksspiel stattfand, zunichte gemacht. Die Theke der Bar schien ihr so lang wie ein Güterwagen zu sein und durch den glänzenden Wandspiegel wirkte der Tresen noch beeindruckender. Zwar fehlten Rachel die Vergleichsmaßstäbe, aber sie hatte den Eindruck, dass der Brimestone Saloon für eine Bar im Wilden Westen ziemlich gut ausgestattet war. Es gab ein paar Gäste, die die Köpfe gesenkt hielten, die Krempen ihrer Hüte tief ins Gesicht gezogen hatten und schweigend, jeder für sich, ihre Drinks einnahmen.
Aus den Augenwinkeln heraus sah Rachel, dass Trey es offensichtlich genoss> dass sie sich in dieser Umgebung unbehaglich fühlte, obwohl sie das sorgfältig zu verbergen versuchte. Sein Verhalten irritierte sie, denn sie hätte gar nicht versucht, ihre Gefühle zu verbergen, wenn sie nicht gewusst hätte, wie wichtig dieser Besuch für Emma war. June war den ganzen Morgen damit beschäftigt gewesen, Plätzchen zu backen, und erst vor einer Stunde hatte sie Toby mit ihrem besten und einzigen Teeservice in den Saloon schickt, zusammen mit einem Berg von Gebäck, mit dem man ein ganzes Kavallerie-Regiment hätte versorgen können. Als Toby wieder zur Kutschstation zurückgekommen war, hatte er seine Belohnung in Form von Gebäck bekommen, das June für den Jungen aufgehoben hatte. Anschließend hatte Toby Bauchschmerzen bekommen und musste sich ins Bett legen, wo er sich den Magen gehalten hatte. Jacob nahm sich vor, dem Jungen mal einen Vortrag über die Kunst der Mäßigung zu halten. Die McCaffreys waren sich sogar in die Haare geraten, denn Jacob hatte seiner Frau erklärt, dass sie dem Jungen nichts Gutes antat, wenn sie ihn auch noch ermunterte, kräftig züzulangen und gierig alles in sich hineinzuschlingen. Miss June hatte erwidert, dass der arme Kerl in
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