Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
denkst.«
»Ich denke nur, du willst mal wieder den Kino-Cop raushängen lassen.«
Seine Nasenflügel blähten sich. »Oh Mann, jetzt hör doch mit den alten Geschichten auf. Klar wäre es toll, wenn du ein bisschen wühlen könntest. Kannst du nicht ganz unauffällig ein wenig … blättern?«
»So was geht nicht unauffällig. Und selbst wenn es ginge, will ich nicht daran schuld sein, dass eine Familie in die Öffentlichkeit gezerrt wird, die wirklich genug andere Probleme hat.«
Milo atmete tief durch. »Ja, ja, ich denke wie ein Jäger, nicht wie ein Menschenfreund.«
»Es ist außerdem sehr unwahrscheinlich, dass dich diese Spur weiterführt, mein Freund. Veronese hat recht: es kann gar nicht sein, dass sie Vita kannten oder wussten, wo sie wohnt.«
»Es sei denn«, sagte er, »sie wohnen in der Nachbarschaft, haben sie zufällig entdeckt, waren immer noch sauer und haben beschlossen, es ihr heimzuzahlen.«
»Sie folgen ihr, um sie umzubringen und aufzuschnipseln?«, sagte ich. »Die Wut muss aber wirklich groß gewesen sein.«
»Das stimmt. Andererseits kann erhöhter Stress die Frustrationsschwelle beeinflussen, richtig? Was, wenn das arme kleine Ding kurz nach dem Streit starb? Das würde doch bei Mommy und Daddy böse Erinnerungen wachrufen. Daddy würde sich das Hirn darüber zermartern, es würde ihn innerlich zerfressen. Dann läuft er zufällig Vita über den Weg, vielleicht schnauzt sie ihn erneut an. Er beschließt – wie nennt ihr das noch? –, seine ganze Wut auf sie zu übertragen.«
»Ja, so nennen wir das.« Wie oft hatte ich das Phänomen beobachtet. Angehörige empören sich über das Krankenhausessen oder über einen unglücklich formulierten Satz, über ganz banale Dinge – denn die sind sie imstande zu bewältigen, im Gegensatz zum eigentlichen Problem. Mehr als einmal bin ich gerufen worden, um einem trauernden Vater eine Waffe zu entwinden. Aber nie habe ich solche Brutalität erlebt wie bei Vita Berlin, und das sagte ich Milo.
»Wenn ich also die Patientenakten einsehen will, muss ich allein ins Western Pediatric gehen«, sagte er.
»Ich werde jetzt jedenfalls Dr. Shacker anrufen. Vielleicht hat er ja irgendwann zwischen zwei Terminen Zeit für mich.«
»Danke.«
»Kein Problem.«
»Ach, Probleme gibt es genug«, sagte er. »Aber das sind ja alles meine.«
6
Das grausige Tatortszenario bekam ich auch auf der Fahrt nach Hause nicht mehr aus dem Kopf. Vergeblich versuchte ich, den Horrorkanal in meinem Hirn abzuschalten. Die Leiche stahl sich immer wieder zurück in meine Gedanken.
Ich stellte das Radio an und drehte die Lautstärke voll auf. Mir war klar, dass jeder ohrenbetäubende Donnerschlag winzige Härchen aus meinem Gehörkanal riss, doch einen leichten Hörschaden war es mir wert. Als mir beim Durchzappen dann aber nichts anderes als öder Klimperpampf und nervtötendes sinnentleertes Gequassel entgegenschlug, hielt ich am Straßenrand und öffnete den Kofferraum, um eine ramponierte schwarze PVC -Box herauszuholen, die ich schon lange nicht mehr in der Hand gehabt hatte.
Audiokassetten.
Für alle unter Dreißigjährigen ungefähr auf einer Ebene mit Edisons Paraffinwachs-Phonographen, für den Seville das Normalste von der Welt. Er ist Baujahr ’79 und holperte gerade noch rechtzeitig vom Band, bevor Detroit auf protzige Riesenkisten umstellte. Fünfzehntausend Meilen mit dem dritten Motor, verstärkte Radaufhängung, durch regelmäßige Öl- und Ölfilterwechsel bei Laune gehalten. Vor Jahren habe ich einen CD -Spieler und eine Freisprechanlage nachgerüstet. Nur dem MP 3-Player habe ich mich verweigert und stattdessen das original Tapedeck gelassen, denn als ich noch Student war, waren Kassetten ein Luxusgut, und ich besitze ziemlich viele davon, die ich alle gebraucht erstanden habe, als derlei noch von Bedeutung war.
Als ich wieder ins Auto stieg, schwoll das Dröhnen in meinem Kopf zu tosendem Lärm an. Ich habe schon viele schlimme Dinge gesehen, und so ergeht es mir nicht oft, aber ich bin ziemlich sicher, wo das Getöse in meinem Innern seinen Ursprung hat. Wenn ich mich als Kind vor meinem Vater versteckte, weil er zu viel getrunken hatte und jemanden suchte, den er bestrafen konnte, dann stellte ich mir vor, wie der rasende Schlag meines Herzens von weißem Rauschen übertönt wurde.
Nur abstellen ließ es sich nicht. Wenn das Hirn rastlos ist, lässt es sich durch Amphetamine besänftigen. Mein aufgepeitschter Geist lechzte danach, von etwas
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