Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
wenn sie eine einsame Trinkerin war, warum hat sie sich dann die Mühe gemacht, die Flaschen zu verstecken?«
»Sie hat sie vor sich selbst versteckt«, sagte ich. »Das spricht dafür, dass jemand das Gefühl haben will, alles unter Kontrolle zu haben. Und sich selbst als tugendhaft ansieht.«
Niemand schien überzeugt.
Flores sagte: »Was halten Sie von dem gebrochenen Genick, Lieutenant? War das vielleicht Karate oder so was?«
»Sie meinen, ich sollte mal die Übungshallen hier in der Gegend abklappern und fragen, ob da jemand ist, der gern Leute aufschlitzt und mit ihren Eingeweiden spielt?« Er wandte sich der Pizzaschachtel zu. »Wie sieht’s aus – können Sie sie aufmachen?«
»Klar«, sagte Sakura. »Wir haben den Karton auf Fingerabdrücke untersucht, aber keine gefunden. Es fühlt sich nicht an, als wäre tatsächlich Pizza drin. Oder irgendetwas anderes.«
»Los, machen Sie schon.«
Flores klappte den Deckel auf.
Der Karton war leer. Nur auf dem Boden war fein säuberlich, genau wie die Handtücher unter der Leiche, mit Klebeband ein weißes Stück Papier befestigt. Darauf stand in großer, fetter Schrift ein einziges Zeichen:
?
Milo stieg eine Röte ins Gesicht, die ich bei ihm nie für möglich gehalten hätte. An seinem Hals pochte eine Ader. Einen Augenblick lang machte ich mir ernsthaft Sorgen um seine Gesundheit.
Dann grinste er, und die Färbung ließ etwas nach. Als hätte sich gerade jemand einen Scherz mit ihm erlaubt, und er wollte kein Spielverderber sein.
»Was soll das werden, eine Scheiß-Schnitzeljagd? Na schön. Du wirst schon sehen, was du davon hast, Arschloch.« An die Erkennungsdienstler gewandt fügte er hinzu: »Prüfen Sie jeden Quadratmillimeter Oberfläche auf Fingerabdrücke. Suchen Sie nach Stellen, an denen jemand möglicherweise gepatzt und Spuren hinterlassen hat. Und wenn Sie beim ersten Mal nichts finden, fangen Sie wieder von vorn an. Wenn Sie mir sagen, da ist nichts, will ich sicher sein, dass da wirklich nichts ist.«
Flores sagte: »Ja, Sir.«
Sakura sagte: »Wird gemacht.«
Milo begleitete mich zu meinem Auto und ging dabei ein Stück voran, als wollte er mich möglichst schnell loswerden. Als ich den Motor anließ, bückte er sich zu meinem Fenster.
»Danke, dass du vorbeigekommen bist. Ich werde mich jetzt um die üblichen Punkte kümmern: Konten, Telefonverbindungen, nächste Verwandte. Außerdem werde ich mir die beiden Ärzte aus der Wohnung drunter mal ansehen. Wenn wir Glück haben, stellen sie sich als Jack the Ripper und seine schändliche kleine Jill heraus. Wenn du derweil Shacker, diesen Seelenklempner, aufsuchen könntest.«
»Ich rufe ihn an, sobald ich zu Hause bin.«
»Danke. Was du da vorhin gesagt hast, dass es Vita wichtig war, volle Kontrolle zu haben, das sehe ich auch so. Aber ob sie Wert auf Rechtschaffenheit gelegt hat, da bin ich nicht so sicher. Welcher Mensch mit ein bisschen Anstand würde ein krankes kleines Mädchen fertigmachen?«
Ich sagte: »Rechtschaffenheit ist ein weites Feld. Sie könnte sich selbst als jemand gesehen haben, der das Saubere schützt. Restaurants sind zum Essen da, Krankenhäuser für Kranke, Krankheit ist unappetitlich, also hast du hier nichts zu suchen. Das ist ein weitverbreitetes Empfinden. Die meisten Menschen zeigen es nicht so deutlich, aber du wärst überrascht, wenn du wüsstest, in welchem Maße Krankheit stigmatisiert wird. Als ich noch in der Onkologie tätig war, haben mir die Familien ständig von solchen Erlebnissen erzählt.«
Milo schüttelte den Kopf. »Jedenfalls, abgesehen davon, wie sie sich selbst gesehen hat, war sie ein sozialer Totalausfall, und das bedeutet, dass die Liste unserer Verdächtigen ins Unendliche gewachsen ist.«
Ich ließ den Motor an.
Er sagte: »Gibt es denn noch andere Krankheiten außer Krebs, von denen man eine Glatze bekommen kann?«
»Ein paar«, sagte ich, »aber ich würde auch auf Krebs tippen.«
»Wenn das Kind Krebs hat, kann es gut sein, dass es in deiner alten Wirkungsstätte behandelt wird.«
Im Western Pediatric Medical Center, wo ich anfangs als Arzt gearbeitet und gelernt hatte, welche Fragen man stellen durfte und welche nicht.
»Die beste Klinik der Stadt«, sagte ich.
»Hm.«
»Oh nein, tut mir leid.«
»Nein, was?«
»Du bist mein Freund, aber ich werde nicht in Patientenakten wühlen.«
Milo stieß sich gegen die Brust. »Als ob ich dich jemals um so etwas gebeten hätte! Jetzt weiß ich, was du wirklich über mich
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