Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
Sie sonst nichts mehr …«
»Wie oft war sie bei Ihnen?«
»Nicht oft – sechs oder sieben Mal.«
»Haben Sie ihre Akte hier?«
»Sämtliche Aufzeichnungen sind bei der Versicherungsgesellschaft.«
Sein Telefon läutete. Er ging zum Schreibtisch, um abzuheben. »Dr. Shacker … oh, hallo … ja, ich könnte Sie heute noch unterbringen, das müsste gehen … ja, natürlich, gerne, wir besprechen das dann alles, wenn Sie hier sind.«
Er legte auf und sagte: »Eine Sache noch, Alex. Wahrscheinlich sollte ich Ihnen davon gar nichts erzählen, aber ich tue es trotzdem. Sie hat mal einen Namen erwähnt; eine der Kolleginnen, die sie gemobbt haben: Samantha, ohne Nachnamen. Ob Ihnen das weiterhilft?«
»Schon möglich. Danke.«
»Kein Problem. Und jetzt wenden wir uns wieder den Dingen zu, die wir gelernt haben, was? War nett, Sie kennenzulernen, Alex.«
8
Auf dem Weg zum Seville dachte ich über das Fragezeichen in der Pizzaschachtel nach, und ein alter Fall kam mir in den Sinn.
Milo hatte an einen üblen Scherz des Täters gedacht, doch vielleicht sollte hier wirklich eine Frage gestellt werden. Ich rief Milo im Büro an. Er sagte: »Hast du einen Termin bei dem Seelenklempner bekommen?«
»Bei dem war ich gerade.« Ich fasste kurz zusammen.
»Posttraumatisches Tralala und eine Mobberin namens Samantha? Das ist immerhin ein Anfang, vielen Dank, Doc.«
»Bedauerlicherweise ist Shacker an die Schweigepflicht gebunden und konnte mir nicht sagen, für welche Firma Vita gearbeitet hat.«
Er sagte: »Well-Start Health Management and Assurance. ›Ihr Wohlergehen ist bei uns in sicheren Händen.‹«
»Oh.«
»Ich hab ein paar von ihren Unterlagen in einem Küchenschrank gefunden, darunter fünf Jahre alte Steuerbescheide. Zwei Jahre hat sie bei Well-Start gearbeitet, davor hatte sie diverse befristete Bürojobs, Einkommen: circa dreißigtausend pro Jahr. Letztes Jahr hat sie fünfhundertdreiundachtzigtausend auf ein Investmentkonto eingezahlt, was mich umgehauen hat, aber jetzt macht es Sinn: Das war eine einmalige, fette Abfindung. Das Geld ist in Vorzugsaktien angelegt und bringt rund sechs Prozent Zinsen. Das macht über dreiunddreißigtausend im Jahr. Sie bekam also fürs Nicht-Arbeiten mehr als vorher für die Arbeit.«
Ich sagte: »Ihr Job dürfte ihr aber durchaus gefallen haben.«
Er sagte: »Von morgens bis abends ihre Mitmenschen schikanieren zu können? Das passt zu dem, was wir über sie wissen. Ich werde versuchen, diese Samantha zu finden und alle anderen, die sie angeblich gemobbt haben. In der Zwischenzeit klappern Reed und Binchy jeden verdammten Pizzadienst in einem Radius von fünfzehn Kilometer ab, um zu sehen, ob irgendeiner davon diese Kartons benutzt. Ich werde außerdem beim Hersteller der Kartons anrufen, vielleicht liefern die auch an Privatkunden, und wenn ich Glück habe, finden wir raus, dass irgendein Spinner was bestellt hat. Irgendwelche sonstigen Erkenntnisse?«
»Das Fragezeichen«, sagte ich. »Ich bin nicht sicher, ob das eine Verarschung war.«
»Sondern?«
»Vielleicht wollte unser Übeltäter nur andeuten, dass er neugierig ist.«
»Worauf?«
»Auf die Geheimnisse des menschlichen Körpers.«
»Das Ganze soll eine kleine Anatomiestunde gewesen sein? Mir kam es eher vor, als wollte er das Opfer einfach nur grausam ausschlachten.«
»Auch möglich.«
»Du meinst also wirklich, er wollte sozusagen tiefschürfende Erkenntnisse gewinnen?«
»Die ganze Anordnung, der sauber aufgeräumte Tatort erinnert mich an einen Patienten, den ich vor vielen Jahren hatte, als junger Assistenzarzt am Langley Porter Psychiatric Institute in San Francisco. Ein Zehnjähriger, hochintelligent, höflich, gut erzogen. Er hatte keinerlei Probleme, außer seiner Grausamkeit gegenüber Tieren. Sadistische Psychopathen fangen oft damit an, kleine Kreaturen zu quälen. Dieser Junge aber hatte offenbar gar keine Freude daran, ihnen Schmerz zuzufügen. Er fing Mäuse und Eichhörnchen in schmerzlosen Fallen und drückte ihnen dann mit Benzin getränkte Lappen vor die Schnauze, bis sie tot waren. ›Ich halte sie nur so fest, wie es sein muss‹, hat er mir erklärt. ›Ich tue ihnen nie weh, denn das wäre nicht richtig.‹ Ihr Todeskampf hat ihn jedes Mal schwer mitgenommen. Als ich ihn danach fragte, überlief es ihn regelrecht. Er betrachtete sein Hobby als legitimes wissenschaftliches Experimentieren. Er zerlegte die Tiere fein säuberlich, entnahm ein Organ nach dem anderen, untersuchte
Weitere Kostenlose Bücher