Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
mit ihrem Verhalten die Feindseligkeiten provoziert? Doch das herauszufinden war nicht meine Aufgabe. Ich sollte nur beurteilen, ob sie simulierte, und das konnte ich nicht. Offenbar hat aber diese Aussage gereicht, denn der Vergleich kam am Ende zustande.«
»Wie viel von den fünf Millionen hat sie denn bekommen?«
»Ich war in die Einzelheiten nicht eingeweiht, aber der Anwalt sagte, es sei erheblich weniger gewesen – etwas unter einer Million.«
»Ziemlich ordentliche Entschädigung für ein paar zugeklebte Schreibtischschubladen.«
Shacker unterdrückte ein Lachen, das seine schmale Gestalt vorwärtsfahren ließ, als hätte ihn jemand von hinten gestoßen. »Entschuldigen Sie, das Ganze ist wirklich eine furchtbare Geschichte. Aber was Sie gerade sagten – ›zugeklebte Schreibtischschubladen‹. Ich bin kein Freudianer, aber das Bild spricht doch Bände, oder? Man könnte Vita sicherlich als eine verschlossene Person beschreiben, in jeglicher Hinsicht.«
»Kein Sexualleben?«
»Ihren eigenen Aussagen zufolge hatte sie weder das noch Freunde oder Bekannte. Sie sagte, ihr sei es so am liebsten. Ob das die Wahrheit war oder reine Sublimierung? Keine Ahnung. Im Grunde kann ich überhaupt nichts Verlässliches über sie sagen, weil ich sie nie lange genug gesehen habe, um ihren Widerstand zu überwinden. Das ist die Welt, in der wir leben, Alex. Wirklich kranke Menschen treffen auf solche wie Vita, die ihnen die Behandlung verweigern, während gleichzeitig völlig überzogene Forderungen befriedigt werden, nur weil es billiger kommt, einen Vergleich zu schließen.«
»Wie heißt der Anwalt, der sie vertreten hat?«
»Ich habe die offiziellen Unterlagen angefordert, aber nie bekommen und musste stattdessen mit einer Zusammenfassung des Falls arbeiten, die mir ihr Arbeitgeber zur Verfügung gestellt hat.«
»Wozu die Geheimniskrämerei?«
»Deren Meinung nach sollte ich neutral bleiben, für den Fall, dass meine Schlussfolgerungen in Zweifel gezogen würden.«
Der Ausdruck von Reue in seinen Augen verstärkte sich. »Rückblickend muss ich schon sagen, dass ich ausgenutzt wurde. So etwas werde ich mit Sicherheit nie wieder machen.«
»Was hat Vita Ihnen an persönlichen Informationen gegeben?«
»Nicht viel. Ihre Anamnese war eine Tortur«, sagte er. »Immerhin habe ich sie dazu gekriegt, zähneknirschend eine schwierige Kindheit zuzugeben. Aber auch hier bleibt die Frage, ob sie das nicht erdichtet hat.«
»Eine echte Kratzbürste.«
»Mir wird zunehmend bewusster, wie wichtig das Wesen eines Menschen ist. Wir alle bekommen ein Blatt ausgeteilt, entscheidend aber ist, wie wir die Karten spielen. Wer Vita Berlin als Frau mittleren Alters kennengelernt hat, kann sich schwerlich vorstellen, dass sie vielleicht einmal ein süßes, fröhliches Kind war. Doch ich könnte mich irren. Vielleicht hat irgendetwas sie so verbittert werden lassen.«
»War sie mal verheiratet?«
»Sie hat mir eine frühe Ehe gestanden, sich aber geweigert, darüber zu reden. Es gibt auch eine Schwester, sie sind in der Nähe von Chicago aufgewachsen. Vor zehn Jahren zog Vita dann nach L. A. um, weil sie das Wetter im Mittleren Westen hasste. Aber L. A. hasste sie ebenso. Alles sei hier dumm und oberflächlich. Ansonsten – ach ja, Kinder hatte sie keine, sie verabscheute Kinder, nannte sie Verschwendung von Sperma und Eiern, O-Ton. Wie lange arbeiten Sie denn schon für die Polizei?«
»Ich bin nicht fest angestellt, mehr eine Art Berater.«
»Klingt interessant«, sagte Shacker. »Mal die dunkle Seite zu sehen und so. Wobei ich das, glaube ich, nicht könnte. Um ehrlich zu sein, bin ich gar nicht so scharf auf diese Art Abgründe. Auf dieses schreckliche Ungleichgewicht der Kräfte.«
»Darauf bin ich auch nicht scharf«, log ich. »Das Befriedigende daran ist die Auflösung.«
»Mein Eindruck ist, dass sich das Profiling als ziemlich nutzlos herausgestellt hat.«
»Patentrezepte gibt es natürlich nicht. Dürfte ich Ihnen noch ein paar Fragen über Vita stellen?«
»Zum Beispiel?«
»Hatte sie besondere Interessen?«
»Ich hatte den Eindruck, dass sie eher häuslich war.«
»Haben Sie Hinweise auf Drogenmissbrauch bei ihr entdeckt?«
»Nein. Warum?«
»Die Polizei hat ein paar Whiskeyflaschen in ihrer Wohnung gefunden. Versteckt.«
»Ach? Tja, das ist mir jetzt peinlich, Alex, aber das ist mir nicht aufgefallen. In Anbetracht ihres Widerstands ist das aber auch kein Wunder.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Wenn
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