Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
sie und zeichnete sie ab. Die Eltern, beide voll berufstätig, hatten keine Ahnung, was er trieb. Sein Babysitter fand ihn beim Sezieren hinter der Garage und flippte aus. Ebenso wie Mom und Dad. Die Reaktion der Erwachsenen machte ihm Angst, und er weigerte sich, mit ihnen zu reden, deshalb schickten sie ihn in die Psychiatrische Ambulanz, und ich übernahm den Fall. Ich brachte ihn schließlich zum Reden, doch das dauerte Monate. Er verstand tatsächlich nicht, was die ganze Aufregung sollte. Man hatte ihm beigebracht, dass Neugier etwas Positives sei, und er war einfach neugierig, wie die Tiere ›funktionierten‹. Dad war Physiker, Mom Mikrobiologin, Wissenschaft war die Religion der Familie – er war doch auch nicht anders als sie. In Wahrheit hatten die Eltern beide eine etwas seltsame Persönlichkeit – heute würde man von Asperger-Syndrom reden –, und Kevin war tatsächlich nicht viel anders als sie.«
»Was hast du mit ihm gemacht?«
»Ich organisierte einen Kollegen aus der Pathologie, der mit ihm Anatomie machte, riet seinen Eltern, ihm Bücher zum Thema zu kaufen, um seine Neugier mit Lesen zu stillen. Er fügte sich widerstrebend, nicht ohne zu argumentieren, dass er, sobald er in der High School ein Labor zur Verfügung hätte, wieder mit dem Sezieren anfangen würde, nur dass ihn dann alle für besonders schlau halten würden.«
»Vielleicht sollten wir uns anschauen, was aus dem kleinen Genie geworden ist.«
»Er ist mit siebzehn bei einem Ausflug in die Berge von einem Steilhang gestürzt und tödlich verunglückt. Seine Mutter fand, ich sollte davon erfahren, weil ich einer der wenigen Menschen war, über die Kevin sich je positiv geäußert hat.«
»Dann habe ich hier vielleicht einen Kevinoiden, dem nie geholfen wurde.«
»Ein erwachsener Kevinoid, verhaftet in einer Kindheit, die exzentrisch bis hochgradig gestört gewesen sein kann. Sein Trieb ist ungebrochen, und heute hat er die Reife und körperliche Kraft, ihn in großem Maßstab auszuleben. Die Präzision, die wir gesehen haben, deutet darauf hin, dass er so etwas nicht zum ersten Mal getan hat, wobei ich nirgends auf eine vergleichbare Tat gestoßen bin. Vielleicht hat er ja bislang seine Leichen versteckt oder anderweitig entsorgt.«
»Aber warum präsentiert er dann Vita plötzlich auf dem Silbertablett?«
»Weil er sich langweilt, einen größeren Kick braucht. Oder der Mord hatte persönlich mit Vita zu tun. Wenn du ihren Exmann oder die Schwester ausfindig machst, werden sie sicher ein wenig Licht ins Dunkel bringen.«
Er sagte: »Klar, aber zuerst wollen wir mal hören, was die fiese alte Samantha so zu sagen hat.«
Nachdem wir wussten, dass Vita für Well-Start gearbeitet hatte, war es nicht schwer, ihre Peinigerin zu finden.
Während Robin duschte, rief ich die Website der Firma auf, um mir Fotos von den Angestellten anzusehen, unter anderem ein Gruppenbild von der letzten Weihnachtsfeier der »Abteilung Qualitätskontrolle«.
Zweiundzwanzig unscheinbare Gestalten, die dafür bezahlt wurden, kranken Menschen das Leben schwerzumachen. Aber von Zurückhaltung war da keine Spur. Nicht ein Hauch von schlechtem Gewissen trübte die Feierstimmung.
Samantha Pelleter war Leiterin des Organisationskomitees und auf drei Fotos zu sehen.
Klein, pummelig, blond, vierzig plus. Breites Strahlelächeln.
Dass man sie zur Teamleiterin gewählt oder ernannt hatte, deutete darauf hin, dass sie Führungsqualitäten besaß, und das passte wiederum zu der Vorstellung, dass sie beim Mobbing einer Kollegin eine tragende Rolle gespielt haben könnte. Andererseits war sie körperlich unmöglich in der Lage, einer großen, kräftigen Frau wie Vita Angst einzujagen.
Vielleicht hatte sie Gefolgsleute um sich geschart.
Ich rief Milo noch einmal an. Er sagte: »Ich hab sie gerade gesprochen. Treffe sie morgen um elf. Den Spaß willst du dir doch sicher nicht entgehen lassen, oder?«
»Wo soll das stattfinden?«
»Bei ihr. Ihre Arbeitszeit wurde aus Einsparungsgründen reduziert. Klang zu Tode erschrocken, dass die Polizei bei ihr anruft, hat aber keinen Aufstand gemacht. Wie ausgeprägt ihre Neugier ist, werden wir sehen. Meine jedenfalls gerät langsam außer Kontrolle.«
9
Am nächsten Morgen holte mich Milo ab. »Hast du Ohrstöpsel dabei? Sie wohnt direkt neben dem Flughafen, wirklich mitten in der Hölle. Und das liegt wahrscheinlich daran …«
Er reichte mir zwei Blätter Papier. Das erste war eine Bankauskunft über Samantha
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