Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
gegeben. Manches von dem, was ich vorgeschlagen hatte, wurde umgesetzt. In den meisten Fällen aber hat sich der Staat nicht an seine Versprechungen gehalten.
Einige Jahre zuvor, lange nach Quiggs Zeit, hatte ich dort während meiner Facharztausbildung ein einmonatiges Praktikum absolviert. Ich wollte Einblicke in die größte psychiatrische Klinik westlich des Mississippi bekommen und meinen Lebenslauf damit garnieren.
An einem Frühlingsmorgen war ich bei Sonnenuntergang in San Francisco losgefahren, hatte in San Simeon am Strand übernachtet und den Seeelefanten zugesehen, wie sie sich im Sand rekelten. Am Vormittag des nächsten Tages war ich in Camarillo angekommen, wo ich mich in der Umkleide eines Strandbades duschte und umzog, einen Blick auf die Straßenkarte warf und mich wieder auf den Freeway begab.
Eine schlecht beschilderte Straße, die sich östlich vom Highway 101 entlangschlängelte, hatte mich über ein ausgetrocknetes Flussbett geführt, durch brachliegende Felder und Wäldchen aus einheimischen Platanen und Eichen sowie australischem Eukalyptus, der in Südkalifornien seit Langem heimisch ist. Die nächsten paar Kilometer deutete nichts auf die Nähe eines Krankenhauses hin. Dann tauchte hinter einer scharfen Biegung ein sechs Meter hohes rot lackiertes Stahltor auf, so unvermittelt, dass ich mit voller Wucht auf die Bremse stieg.
Ein aufmerksamer Wachmann prüfte meine Personalien, runzelte die Stirn, deutete auf das Schild, das Schritttempo vorschrieb, und drückte den Summer, der das Tor öffnete. Nach vielen weiteren mäandernden Kurven auf schattigen Straßen hielt ich an der Einfahrt eines Parkplatzes, der eines Stadions würdig gewesen wäre und voller Autos stand. Hinter dem glitzernden Blechmeer erhoben sich bräunlich graue Gebäude, deren Ödnis von Ziergiebeln, Profilleisten und Arkadengängen etwas abgemildert wurde. Die meisten Fenster trugen Gitter in der gleichen trostlosen Farbe.
Stadt der Trostlosen.
Jahrzehnte zuvor hatte Ventura State bereits traurige Berühmtheit erlangt, als Ort, an dem man als Arzt tun und lassen konnte, was man wollte, als Hort des Schreckens. Dann kam der Zweite Weltkrieg, alle Ärzte wurden nach Europa und Asien abgezogen, und der Holocaust definierte Angriffe auf die Unversehrtheit des Einzelnen ganz neu. Zwangseinweisungen sogenannter »Volksschädlinge«, Schock- und Insulintherapien, Zwangssterilisationen, Lobotomien und andere unerprobte Operationen hatten ein Ende. Nach umfassenden und gründlichen Reformen hatte sich Ventura State einen aufgeklärten und humanistischen Ruf erworben; ich freute mich darauf, die Einrichtung im neuen Gewand zu erleben und wieder in Südkalifornien zu sein.
Die ersten beiden Tage vergingen mit Einführungsvorträgen der Oberschwester, an denen nicht nur angehende Fachärzte, sondern auch neue Schwestern und Pfleger teilnahmen. Anschließend durften wir das Gelände frei erkunden, mit Ausnahme des östlichen Randes, wo sich ein abgeschlossener Bereich mit der Bezeichnung Spezialstation befand. Ein Pfleger hatte die Oberschwester gefragt, was denn an der Abteilung so speziell sei. Sie hatte gesagt: »Die ist für spezielle Fälle ganz unterschiedlicher Art«, und war zum nächsten Programmpunkt übergegangen.
Da bis zu meinem ersten Patiententermin noch Stunden Zeit waren, wanderte ich das Gelände ab, dessen Dimensionen und Aura mich schwer beeindruckten. Das ehrfurchtsvolle Schweigen der anderen umherstreifenden Neulinge verriet mir, dass es nicht nur mir so erging.
In den Zwanzigerjahren als sogenanntes Staatliches Sanatorium für Geistige Hygiene erbaut, strahlte die Anlage, die unter dem Namen V-State bekannt wurde, eine Mischung aus altweltlicher Handwerkskunst und New-Deal-Optimismus aus und gehörte zu den schönsten öffentlichen Bauten Kaliforniens. Die Einrichtung umfasste achtundzwanzig Gebäude auf einer Fläche von über einem Quadratkilometer. Mit rosa Steinen gepflasterte Pfade schlängelten sich wie Rosenwasser-Bäche durch das Gelände, Blumenbeete überboten sich gegenseitig in Farbenpracht, die Büsche sahen aus wie mit der Nagelschere getrimmt. Das gesamte Anwesen lag in einem flachen Tal, das auf drei Seiten von nebelumwaberten Bergen begrenzt war.
Nutzbauten am westlichen Ende sorgten dafür, dass die Einrichtung autark war: ein Kühlhaus, eine Schlachterei, eine Molkerei, Gemüse- und Obstgarten, dazu eine Bowlingbahn, zwei Kinos und eine Konzertbühne, Schlafstätten für die
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