Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
behinderte Kinder unterrichtet. Das war ein Softie, Rob. Ein ganz anderer Typ als die anderen beiden Opfer.«
»Interessante Neuorientierung«, sagte sie.
»Was meinst du?«
»Einen Job, bei dem man ständig mit Menschen zu tun hat, gegen einen einzutauschen, bei dem man den ganzen Tag nur Zahlen sieht.«
»Seine Frau meinte, das Geld habe nicht gereicht, deshalb habe er die Ausbildung zum Steuerberater gemacht.«
»Ganz bestimmt.«
»Findest du das merkwürdig?«
»Es erscheint mir ein sehr radikaler Schnitt zu sein, Alex. Aber Geld ist durchaus etwas Wichtiges.«
Ich dachte darüber nach. »Du meinst, irgendetwas ist an dieser Schule passiert, das ihn bewogen hat, eine ganz neue Richtung einzuschlagen?«
»Du hast gerade gesagt, die Motive des Mörders gehen auf seine Kindheit zurück. ›Behinderte Kinder‹, das kann alles Mögliche bedeuten.«
»Ein Schüler mit schweren psychischen Problemen«, sagte ich. »Rache an seinem Lehrer? Oh Mann.«
Sie sagte: »Was, wenn Quigg nicht mehr Lehrer sein wollte, weil ihn ein Schüler das Fürchten gelehrt hat? Ich weiß, das ist weit hergeholt, aber du hast gerade gesagt, der Typ liebt den Kitzel der Jagd. Was, wenn er jetzt, da er erwachsen ist, beschlossen hat, seine alten Feinde zu stellen?«
Der Himmel schien sich noch mehr zu verdunkeln und auf mich herunterzukommen, die Sterne verblassten. Als Robin versuchte, ihre Finger zu biegen, merkte ich, wie fest ich ihre Hand drückte, und ließ los.
»Ich rede einfach so ins Blaue hinein«, sagte sie und hob das Weinglas an ihre Lippen. Es war ein guter Jahrgang, doch heute verursachte er Stirnrunzeln bei ihr. Sie stellte das Glas ab. »Lass uns über was anderes reden.«
Ich sagte: »Macht’s dir was aus, wenn ich kurz telefoniere?«
Belle Quigg sagte: » Wer ist da?«
Ich wiederholte meinen Namen. »Ich war kürzlich bei Ihnen, zusammen mit Lieutenant Sturgis.«
»Oh. Sie waren der andere. Ist was mit Marlin?«
»Ich habe noch ein paar Fragen, Mrs. Quigg. Wie lange war Marlin als Lehrer tätig?«
»Lange. Warum?«
»Wir sind sehr gründlich.«
»Versteh ich nicht.«
Ich sagte: »Je mehr wir über Marlin wissen, umso besser sind unsere Chancen, denjenigen zu finden, der ihm das angetan hat.«
»Das«, wiederholte sie. »Sie können ruhig sagen: ›der ihn getötet hat‹. Ich sage das. Ich denke es. Ich denke an nichts anderes mehr.«
Ich antwortete nicht.
Sie fuhr fort: »Ich verstehe nicht, was seine Zeit als Lehrer damit zu tun haben soll. Das ist schon Jahre her. Das war ein Wahnsinniger, der Marlin und Louie umgebracht hat, und das Ganze hat nichts damit zu tun, was Marlin getan oder gesagt hat.«
»Sie haben sicher recht, Ma’am, aber wenn Sie bitte …«
»Marlin hat nicht an einer Schule unterrichtet, sondern in einer Klinik. Ventura State.«
Früher einmal die größte psychiatrische Einrichtung Kaliforniens, schon lange geschlossen. »Wann war das?«
»Das war vor unserer Heirat, ich hatte ihn gerade kennengelernt, da hat er mir erzählt, dass er früher Lehrer war, also … vor mehr als fünfundzwanzig Jahren.«
»Was waren das für behinderte Kinder?«
»Er hat immer nur ›behindert‹ gesagt«, erklärte sie. »Er hat überhaupt nicht viel über diese Zeit gesprochen, und ich war auch nicht neugierig. Solche Dinge sind nichts für mich. Marlin meinte, die Bezahlung sei unterirdisch gewesen, deshalb habe er die Zusatzausbildung gemacht und nebenbei für die Stadt Buch geführt. Aber der wahre Grund war, dass er nicht ohne Job dastehen wollte. Er hatte nämlich herausgefunden, dass die Klinik geschlossen werden sollte. Das hat er mir irgendwann mal erzählt.«
»Wie hat er die Schließung aufgenommen?«
»Er fand das ganz schrecklich. Wegen der Kinder. Er sagte: ›Wohin sollen sie denn gehen, Belle?‹ So war Marlin. Immer hat er sich um andere gesorgt.«
24
Der nette Mr. Quigg hatte seine Frau belogen.
Zu der Zeit, als er im Ventura State beschäftigt war, hatte es noch keinerlei Schließungspläne für die Klinik gegeben.
Ich wusste das, weil ich selbst wenige Wochen vor der Schließung dort gewesen war, im Auftrag einer Anwaltskanzlei, die die Insassen der zwei Kinderstationen vertreten hatte, stark geistig behinderte Kinder, die an den Rollstuhl gefesselt waren und einer beängstigend vagen Zukunft ins Augen blicken mussten. Ich hatte jeden einzelnen der kleinen Patienten begutachtet und detaillierte Empfehlungen für die von den Behörden versprochene Nachsorge
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