Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)

Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)

Titel: Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
Mitarbeiter sowie eine Polizei- und eine Feuerwehrstation. Das Bestreben nach Unabhängigkeit entsprang einerseits dem hehren Ziel, die Ehre der Einrichtung wiederherzustellen, zum anderen aber wurde dadurch das übrige Ventura County vor den Nachbarn beschützt, die wegen psychischer Erkrankungen oder Schwächen oder als »spezielle Fälle« hier lebten.
    Ich verbrachte die vier Wochen meines Aufenthalts mit Kindern, die weiter entwickelt waren als die Unglücksraben, die ich Jahre später zu begutachten hatte, die aber trotzdem nicht in der Lage waren, in die Schule zu gehen. In den meisten Fällen gab es eine organische Ursache: Epilepsie oder ähnliche Erkrankungen, postenzephalitisches Syndrom, Genommutationen und verwirrende Kombinationen von Symptomen, die man Jahrzehnte später unter dem Sammelbegriff Autismus zusammenfassen würde. Damals fand man verschiedene Termini dafür, ich erinnere mich zum Beispiel an »idiopathische neurosoziale Störung«.
    Sechzig Stunden die Woche arbeitete ich daran, meine Beobachtungsgabe zu schulen, durfte ausprobieren und bekam praktische Einblicke in die Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters, in Spieltherapie, kognitive Umstrukturierung und angewandte Verhaltensanalyse. Was ich aber vor allem lernte, war Demut und Zurückhaltung in meinem Urteil. V-State war kein Ort für Helden; wenn Besserung eintrat, dann graduell und kaum wahrnehmbar. Ich lernte, jeden Tag mit einem Mantra zu beginnen: Setze dir klare und realistische Ziele, und freue dich, wenn es gut läuft .
    Auf den ersten Blick wirkte die Klinik wie eine idyllische Flucht aus der Realität, doch ich erlebte alsbald, dass die allumfassende Stille ohne jegliche Vorwarnung unterbrochen werden konnte, von Schreien und Wimmern und einem Krachen, das klang, als ob Holz auf Haut traf und das vom östlichen Ende des Geländes herüberdrang.
    Die Spezialstation war eine Art Krankenhaus im Krankenhaus, eine Anhäufung schäbiger niedriger Bauten, die sich an den Granitfelsen im Osten schmiegten und von dem allgegenwärtigen roten Eisenzaun mit dem Stacheldrahtverhau abgetrennt wurden. Die Gitterstäbe hier waren dicker, die Fenster spärlicher. Hinter dem Zaun patrouillierten in unregelmäßigen Abständen Wachen. Der umgebende Garten war meist menschenleer. Kein einziges Mal habe ich dort einen Patienten gesehen.
    Eines Tages fragte ich meine Supervisorin, was dort los sei.
    Gertrude Vanderveul, Psychologin, Amerikanerin, grauhaarig und elegant, hatte ihre Ausbildung in England absolviert, im Londoner Maudsley Hospital. Sie liebte maßgeschneiderte Hosenanzüge und preisgünstiges, festes Schuhwerk, war ein großer Fan von Mahler, lehnte aber im Übrigen alles ab, was nach Bach gekommen war, und hatte in ihrer Londoner Zeit als Forschungsassistentin für Anna Freud gearbeitet. (»Eine reizende Person, aber viel zu fixiert auf ihren Daddy, um ein normales Sozialleben zu führen.«)
    An dem Tag, als ich die Frage stellte, spazierten wir unter wolkenlosem Himmel auf dem Gelände umher. Das Wetter war traumhaft, die Luft duftete wie frische Wäsche, und wir sprachen über meine Fälle. Anschließend lenkte sie das Gespräch auf die Methoden von Piaget und deren Grenzen und forderte mich auf, meine Meinung dazu abzugeben.
    »Ausgezeichnet«, sagte sie. »Ihre Ansichten sind sehr scharfsinnig.«
    »Danke«, sagte ich. »Darf ich Sie etwas über die Spezialstation fragen?«
    Sie antwortete nicht.
    Weil ich annahm, dass sie mich nicht gehört hatte, wiederholte ich meine Frage. Sie hob einen Finger an den Mund, und wir setzten unseren Spaziergang fort.
    Ein paar Augenblicke später sagte sie: »Dieser Ort ist nichts für Sie, mein lieber Junge.«
    »Bin ich etwa zu grün dafür?«
    »Das ist das eine«, erwiderte sie. »Aber zum anderen mag ich Sie.«
    Als ich nichts darauf erwiderte, sagte sie: »Vertrauen Sie mir, Alex.«
    Hatte Marlin Quigg ähnliche Erfahrungen gemacht, vielleicht sogar am eigenen Leib?
    Interessante Neuorientierung.
    Bist ein kluges Mädchen, Robin.
    Ich ging wieder nach draußen, um ihr zu sagen, dass sie uns möglicherweise einen großen Schritt weitergebracht hatte, doch sie war nicht mehr am Teich. Ihre Atelierfenster waren beleuchtet, und ich hörte das Surren einer Säge. Ich kehrte in mein Arbeitszimmer zurück und rief Milo an.
    »Quigg hat nicht in einer Schule unterrichtet. Er hat im Ventura State Hospital gearbeitet.«
    »Okay.« Zerstreut.
    Ich sagte: »Vielleicht hat er seine Frau

Weitere Kostenlose Bücher