Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
Ermittlungsarbeit.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass sie davon wusste.«
»Allerdings. Sie wurden in einem Zeitungsartikel über irgendeinen Kriminalfall erwähnt. Mutter erkannte Sie sofort wieder. Wir saßen beim Mittagessen, da deutete sie ganz begeistert auf Ihren Namen. ›Das war einer meiner Praktikanten, Trude. Ein kluger junger Mann, sehr wissbegierig. Ich habe ihn damals von den bösen Sachen ferngehalten, aber anscheinend habe ich ihn damit erst recht auf den Geschmack gebracht.‹«
»Haben Sie irgendeine Idee, wovor sie mich beschützen wollte?«, fragte ich.
»Ich nehme an, vor den gefährlichen Patienten.«
»In der Spezialstation.«
»Mutter hielt sie für nicht behandelbar. Sie war der Meinung, dass man bei solch schwere Formen von Persönlichkeitsstörungen mit psychologischen oder psychiatrischen Methoden nichts ausrichten könne.«
»Hat sie selbst mit solchen Patienten gearbeitet?«
»Wenn ja, hat sie davon nie etwas erwähnt«, sagte Trude Prosser. »Das hatte nicht nur etwas mit dem Arztgeheimnis zu tun. Sie sprach generell nicht mit uns über die Arbeit. Aber sie war viele Jahre in V-State, es kann also gut sein, dass sie auch diese Abteilung durchlief. Wie lange waren Sie denn bei ihr, Alex?«
»Einen denkwürdigen Monat lang«, sagte ich.
»Sie war eine wunderbare Mutter. Vater starb, als wir noch klein waren, und sie hat uns ganz allein aufgezogen. Eine der Lehrerinnen meines Bruders fragte sie einmal, wie sie es gemacht habe, so wohlerzogene Kinder zu haben; ob sie wohl eine geheime Methode habe, ein Psychologengeheimnis.«
Sie lachte. »Die Wahrheit ist, zu Hause waren wir wilde Hummeln, nur nach außen hin taten wir so, als ob. Mutter nickte also bedächtig und erklärte: ›Es ist ganz einfach. Ich schließe sie in den Gemüsekeller und geben ihnen nur trockenes Brot und abgestandenes Wasser.‹ Die arme Frau wäre fast aus den Schuhen gekippt, bis sie merkte, dass meine Mutter sie auf den Arm nahm. Tja, aber um ehrlich zu sein, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Die Frage wird Ihnen merkwürdig vorkommen. Hat sie jemals etwas von Fragezeichen erzählt?«
»Wie bitte?«
»Ein Kind, das Fragezeichen malt. Hat Ihre Mutter mal so etwas erwähnt?«
»Nein«, sagte sie. »Mutter hat definitiv nie über Patienten gesprochen. Sie hielt sich an die Schweigepflicht. Da war sie absolut kompromisslos.«
»Hat sie mal einen Lehrer namens Marlin erwähnt?«
»Marlin«, wiederholte sie. »Wie der Fisch. Immerhin kann ich jetzt auch mal Ja sagen. Ich kann mich an den Namen erinnern, weil er eine Zeitlang so etwas wie ein Familiengag bei uns war. Mag – mein Bruder – war in den Semesterferien zu Hause und hatte sich rasch zu dem vorlauten Bengel zurückentwickelt, der er früher gewesen war. Als Mutter ankündigte, dass jemand namens Marlin zu Besuch käme und wir uns deshalb verdünnisieren sollten, um nicht zu stören, sprang Mag natürlich sofort darauf an. Wir sollten Mr. Fish Tunfischsalat geben, schlug er Mutter vor, dann könnten wir zusehen, wie er zum Kannibalen wird. Meine Schwester Ava und ich fanden das natürlich zum Totlachen, obwohl wir ebenfalls längst aus dem Flegelalter heraus waren. Aber so war das immer mit Mag. Sobald er zu Hause war, regredierten wir alle schlagartig. Das wiederum spornte Mag an, und er erfand noch mehr fürchterliche Wortspiele – Marlin spricht bestimmt mit gespaltener Seezunge, Marlin, was für eine kleine Krabbe, so ein kalter Fisch. Und so weiter. Als Mutter sich von ihrem Lachanfall erholte hatte, schärfte sie uns ein, wir dürften uns auf keinen Fall blicken lassen, solange der arme Bub da wäre, denn er sei Lehrer in V-State, mache gerade eine schwere Phase durch und brauche etwas Aufmunterung.«
»Sie hat Quigg einen Buben genannt?«
»Hm«, machte Trude Prosser. »Es ist zwar schon lange her, aber ich glaube trotzdem, dass mich mein Gedächtnis nicht trügt. Er war natürlich ein erwachsener Mann, schließlich war er Lehrer. Aber vielleicht wirkte er auf sie wie ein Kind, weil er so verletzlich war. Jedenfalls, da wir alle wussten, dass es keinen Sinn hatte, sich mit Mutter anzulegen, wenn sie auf ihrem professionellen Beschützertrip war, gingen wir ins Kino. Als wir wieder heimkamen, war sie schon wieder allein.«
»Ist Quigg später noch einmal aufgetaucht?«
»Nicht dass ich wüsste. Denken Sie, damals ist etwas passiert, das irgendwie mit seiner Ermordung zusammenhängt? Dass irgendein gewalttätiger Patient ihn nach all
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