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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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St.-Nikolaus-Hospital Rheinberg, nicht hier!«
    »Ich spiele auf überhaupt nichts an«, konterte Pulaski. »Aber Sie kennen ja die Medien.«
    Der Schuss traf ins Schwarze.
    Gessler hob das Kinn. »Fünf Minuten, keine Sekunde länger! Und danach verschwinden Sie.«
     
    55
     
    Der Raum war etwa so groß wie ein Kinderzimmer und auch dementsprechend eingerichtet. Es roch nach Pfefferminztee. Einige Buntstiftzeichnungen waren mit Klebestreifen an den Wänden befestigt, auf dem Tisch stapelten sich Bilderbücher, und auf dem Fensterbrett saß eine Reihe Stofftiere. Evelyn erkannte Pu der Bär, Roger Rabbit und Basil den Mäusedetektiv. Jedes Tier besaß Saugnäpfe an den Pfoten. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie es für das Zimmer einer Zehnjährigen gehalten. Allerdings lag neben Otfried Preußlers Die kleine Hexe ein dickes Handbuch für Psychologie. Ein Lesezeichen steckte in der Buchmitte.
    Lisa saß im Schneidersitz auf dem Bett. In ihrem Schoß lag ein abgegriffenes Exemplar von Rubiks Zauberwürfel, an dem sie bereits die blaue Seite richtig zusammengeschoben hatte. Sie trug einen dunkelblauen Flanellpyjama und betrachtete Doktor Gessler mit apathischem Blick.
    Evelyn blieb mit angehaltenem Atem an der Wand stehen und betrachtete das Mädchen, das ihr gegenüber saß. Zweifellos war das die junge Frau auf der Fotografie und dem Phantombild. Die gleiche Figur, die gleiche Frisur und die gleichen schmalen, blassen Gesichtszüge. Auch der Blick war identisch. Allerdings wirkte sie inmitten der Spielsachen so zerbrechlich wie ein gläsernes Kind und keineswegs so berechnend und selbstbewusst wie in dem blauen Spaghettiträgerkleid.
    »Guten Morgen, Lisa«, sagte die Ärztin. Diesmal klang ihre Stimme viel weicher als noch vor einer Minute. »Hier ist noch ein Besuch für dich. Es dauert nicht lange. Lass dir Zeit und beantworte bitte die Fragen, die dir Herr Pulaski stellen wird.«
    Doktor Gessler wandte sich an den Ermittler. »Sie leidet unter dissoziativer Persönlichkeitsstörung«, flüsterte sie ihm zu. »Einige Teile ihrer Psyche sind auf dem Niveau einer Zehnjährigen stehengeblieben. Andere Teile sind energisch und kraftvoll. Lisa kann eine starke Person sein. Doch wegen der Aufregung, die Sie verursacht haben, mussten wir sie mit zwei Milligramm Haldol beruhigen. Sie haben fünf Minuten.« Sie lehnte sich an die Fensterbank und blickte zur Wanduhr.
    »Darf ich mich setzen?« Pulaski wartete keine Antwort ab, sondern nahm auf dem Bett Platz.
    Lisa bemerkte es nicht einmal, sondern drehte an dem Würfel.
    »Lisa, wir wissen seit kurzem, dass du einen Bruder hattest.«
    Sie drehte weiter.
    »Erinnerst du dich noch an Manuel?«
    Plötzlich stoppte sie in der Bewegung. Ihr Blick wanderte langsam zu dem Kripobeamten.
    »Wir wissen auch, dass du mit ihm gemeinsam auf einem Schiff warst.«
    Lisa presste die Lippen zusammen, ihre Stirn legte sich in Falten.
    Evelyn bemerkte, dass Doktor Gessler unruhig wurde. Sie beobachtete jede Geste des Mädchens, aber noch unternahm sie nichts.
    »Ich verspreche dir, dass wir die Männer finden werden, die dir und deinem Bruder das angetan haben.«
    Nun hatte Pulaski Lisas volle Aufmerksamkeit. Ihre Hände glitten vom Würfel. Sie starrte den Ermittler mit wachen Augen an.
    »Ich habe kürzlich Lesja gesehen. Sie war mit dir gemeinsam auf diesem Schiff, nicht wahr?«
    Lisas Mund öffnete sich. Ihre Lippen waren spröde. Sie wollte etwas sagen.
    Pulaski sah sie zugleich fragend und ermunternd an.
    »Welches Schiff?«, flüsterte sie.
    »Welches…?«, wiederholte Pulaski ungläubig. Er warf Evelyn einen Hilfe suchenden Blick zu.
    Evelyns Gedanken rotierten. Simulierte die junge Frau bloß? Sie musste doch etwas über das Schiff wissen! Andererseits wirkte der fragende Blick so echt, als hätte Lisa tatsächlich noch nie etwas von der Kreuzfahrt gehört.
    »Welches Schiff?« Diesmal galt Pulaskis Frage Evelyn.
    Sie wandte sich an Lisa. »Das Schiff lief in Bremerhaven aus. Die Jacht gehörte einem gewissen Edward Hockinson.«
    Keine Reaktion auf Lisas Gesicht.
    »Mit an Bord waren Heinz Prange, Rudolf Kieslinger, Peter Holobeck …« Der Gedanke an ihren Kollegen schnürte ihr für einen Moment die Kehle zu, doch dann zählte sie die anderen Namen auf, die sie mittlerweile auswendig kannte. Aber bei keinem einzigen regte sich auch nur das kleinste Anzeichen einer Erinnerung in Lisas Gesicht.
    »Der Kapitän des Schiffs brachte euch das Essen in die Kabinen«, fuhr

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