Rachesommer
Griff schlug gegen ihre Hand. Eine Korditwolke hüllte sie ein. Es roch nach versengtem Metall.
»Etwas höher und weiter rechts«, korrigierte Pulaski. »Sie müssen den Riegel im Schloss durchschießen.«
Sie streckte die Arme durch und drückte drei weitere Male ab. In der Tür befanden sich vier schwarze Löcher, um die sich das Metall verbogen hatte. Evelyn musste etwas an der Klinke zerren, doch dann knirschte der Rahmen, und die Tür ließ sich aufziehen.
Sie wandte sich zu Pulaski. »Ich kann Sie doch nicht so zurücklassen.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
»Ich könnte versuchen, die Handschellen aufzuschießen.«
»Und mir einen Querschläger in den Arm jagen? Nein, danke.« Er lachte müde. »Außerdem können Sie mich unmöglich die Treppe hochschleppen. Sehen Sie zu, dass Sie zu Greta kommen. Ich verständige inzwischen die Polizei und den Notarzt.«
Sie sicherte die Pistole und legte sie ihm in den Schoß.
»Was soll das? Nehmen Sie das verdammte Ding mit!«
Mitnehmen? Wofür hielt er sie? »Niemals«, widersprach sie. »Ich schieße doch nicht auf einen Menschen!«
»Das sollen Sie auch nicht - aber vielleicht denken andere nicht so wie Sie.«
»Ich komme schon klar.«
»Und wie wollen Sie Greta helfen?«
»Soll ich etwa einen Mord an dieser Schlampe verhindern?«
Pulaski starrte sie entsetzt an. »Diese Frau gehört vor ein Gericht. Sie muss verurteilt werden …«
»… und kommt bei einem milden Urteil nach ein paar Jahren Gefängnis wieder frei«, vollendete Evelyn mit einem zynischen Ton.
»Bestimmt nicht.«
»Sie haben ja keine Ahnung.« Evelyn wusste, wovon sie sprach. Es hatte schon einmal so geendet. Sie dachte wieder an den Mann …
…der ihre Familie zerstört hatte. Er war nach zehn Jahren entlassen worden. Die Haft hatte gerade mal zwei Jahre länger gedauert, als Evelyns Schwester alt gewesen war. Eine Verfügung im Urteil besagte zwar, dass er sich Evelyn nach der Entlassung im Umkreis von drei Kilometern ihres Wohnsitzes nicht nähern durfte, doch was nützte das schon? Er war bereits Teil ihres Lebens geworden - ein Dorn in ihrer Seele. Seit ihrer Flucht aus seiner Jagdhütte verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn oder ihre Schwester dachte … oder an ihre Eltern. Zum Glück hatten sie nicht mehr erlebt, wie er freigekommen war. Dafür hatten sie selbst gesorgt.
Jeder sprach ständig vom schrecklichen Unfall ihrer Eltern und bedauerte Evelyn wegen dieses tragischen Schicksals. Wie tapfer sie doch gewesen sei, als sie am Beginn ihres Studiums plötzlich allein dastand und ihr Leben mit Ferienjobs und Stipendien finanzierte. Wahrscheinlich ahnte nicht nur sie, dass es gar kein Unfall gewesen war. Wer regelte schon alle finanziellen Angelegenheiten, um eine Woche später im Nieselregen, Hand in Hand, die Bahngleise im Scheinwerferlicht eines herannahenden Schnellzugs zu überqueren? Vater und Mutter wären dieses Risiko niemals eingegangen. Die Wahrheit würde wohl nie jemand erfahren. Doch tief drinnen hatte Evelyn gespürt, dass ihre Eltern an der Entführung zerbrochen waren - und die bevorstehende Entlassung des Mannes hatte sie endgültig zerstört…
»Auch wenn es sich um eine Mörderin handelt, müssen Sie versuchen, ihr Leben zu schützen.« Pulaskis Worte drangen nur dumpf zu ihr durch. »Schließlich vertreten Sie das Gesetz. Sie sind Rechtsanwältin und arbeiten an diesem Fall.«
Sie sah ihn an. »Ich arbeite nicht an dem Fall«, antwortete sie leise.
Seine Augen wurden groß. »Was?«
Es wurde Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen. »Mein Chef hat mich diese Woche vom Dienst beurlaubt. Ich bin wegen privater Recherchen nach Deutschland geflogen.«
»Sagen Sie bloß, Sie sind persönlich in diese Sache involviert?«
Für einen Augenblick dachte sie an Holobeck. »Teilweise.« Für Pulaski sollte diese Erklärung genügen. Er musste nicht wissen, dass ihre Reise, die mit den harmlosen Ermittlungen im Airbag- und im Kanaldeckel-Fall begonnen hatte, mittierweile zu einer Gefühlsodyssee durch ihre eigene Vergangenheit geworden war. Doch in seinen Augen sah sie, dass sie ihm nichts verheimlichen konnte.
»Ihnen ist etwas Ähnliches zugestoßen wie Lisa, nicht wahr?«
Sie brauchte nicht zu antworten. Pulaski besaß genug Menschenkenntnis und musste die Antwort nur in ihrem Gesicht ablesen.
»Das tut mir leid«, sagte er schließlich, diesmal eine Spur leiser. »Trotzdem sind Sie Anwältin, und wenn es in Ihrer Macht liegt, einen Mord
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