Rachesommer
blauen Augen sah sie Lisa zum Verwechseln ähnlich.
Sybil deutete mit der Waffe zum Kühlschrank. »Setzen Sie sich dort an die Wand.«
»Ich bin nicht Greta Hockinson«, erklärte Evelyn, während sie zurückwich.
»Das weiß ich!«, fuhr Sybil dazwischen. »Ich kenne Greta.«
Evelyn stockte in der Bewegung. Sie konnte Greta nicht kennen, höchstens von Lisas Erzählungen oder von dem Einbruch vor zwei Monaten.
»Woher? Sie haben Greta nie gesehen!«, behauptete Evelyn.
Sybil kniff die Brauen zusammen. »Was wissen Sie schon? Sie ist bestimmt zehn Jahre älter als Sie und hat diese harten Gesichtszüge, die ich nie im Leben vergessen werde. Sie hat sich im Lauf der Jahre kein bisschen verändert.«
Im Lauf der Jahre? Evelyn runzelte die Stirn. Hatte sie sich verhört? Glaubte Sybil tatsächlich, was sie sagte? Oder simulierte sie bloß die Geisteskranke? Andererseits sprachen ihre Augen die Wahrheit. Evelyn kannte niemanden, der sich so perfekt verstellen konnte. Dazu musste sie schon eine verdammt gute Schauspielerin sein. »Sybil, woher kennen Sie Greta?«
Die junge Frau presste die Lider für einen Moment zusammen, als plagte sie eine heftige Migräneattacke. Dann riss sie die Augen wieder auf. Wahnsinn flackerte in den Pupillen. Ihre Hand sank kurz herunter, aber im nächsten Atemzug richtete sie die Waffe wieder auf Evelyn.
»Sybil?«, wiederholte die junge Frau zögernd. »Die hat keine Ahnung, was mir angetan wurde.«
»Aber Sie sind Sybil«, widersprach Evelyn. »Ihr Name ist Sybil Woska.«
»Ruhe!«, fauchte die Frau. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, als würde sie innere Kämpfe ausfechten.
»Erinnern Sie sich an Marty, den Zivildienstleistenden?«, fragte Evelyn. »Er arbeitet in Ochsenzoll in der Station 46. Er will sich das Rauchen abgewöhnen. Marty mochte Sie. Doch Sie brachen die Therapie ab und zogen in ein betreutes Wohnheim nach Kiel. Allerdings sind Sie von dort mit dem Inhalt der Küchenkasse ausgebüchst.«
»Nein! Nein! Nein!« Sybil presste die Faust mit dem Damenrevolver an die Stirn, als wollte sie die Worte aus ihrem Kopf vertreiben.
»Sybil.« Evelyn senkte die Stimme. »Sie sind zwei Jahre älter als Lisa … und in Wien aufgewachsen.« Sie versuchte zu lächeln. »Ich stamme ebenfalls aus Wien. Erinnern Sie sich an den Prater? An das Riesenrad und die Geisterbahn mit dem grünen Monster? An die Allee, die Kastanienbäume im Herbst, an die Au und die …?«
»Ruhe!« Sybil wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Evelyn machte einige Schritte auf sie zu und kniete sich vor ihr auf den Boden. »Sie sind auf der Straße aufgewachsen«, fuhr sie fort. »Ottakring, Meidling, Favoriten … sagen Ihnen diese Bezirke etwas?«
»Nein, ich …« Schließlich sank die Hand mit der Waffe auf die Fliesen. Der Revolver glitt ihr aus den Fingern.
In diesem Moment wirkte Sybil nicht länger wie eine gefährliche und geisteskranke Mörderin. Sie kauerte auf dem Boden, zog die Knie ans Kinn und starrte auf ihre Handgelenke. Unter dem Saum des Pullovers ragte eine schlecht verheilte Narbe hervor, bei deren Anblick Evelyns Herz zerspringen wollte.
»Sybil Woska …« Evelyn griff vorsichtig nach der Waffe, löste den Hahn und steckte sie in den Hosenbund. »Du bist dieses nette Mädchen aus Wien.«
Sybil sah kurz auf. Ihre Wangen waren vom Weinen gerötet. So sieht keine Mörderin aus, dachte Evelyn. Viel eher wirkte Sybil wie ein verwirrtes Mädchen auf der Suche nach ihrer Identität. Und wie es schien, war Lisa ihre einzige Bezugsperson im Leben.
»Hast du außer Lisa noch andere Freunde?«, fragte Evelyn.
Sybil weinte so heftig, dass sie die Wörter nur stoßweise herausbrachte. »Nein, ich …« Sie hob den Blick und sah Evelyn aus geschwollenen, rot geränderten Augen an. »Sind Sie Ärztin in der Klinik? Wie geht es Lisa?«
Evelyn stutze beim Klang von Sybils Stimme. Schlagartig war der norddeutsche Akzent verschwunden.
»Ich bin keine Ärztin«, antwortete Evelyn. »Aber ich kenne Lisa und habe mit ihr gesprochen. Es geht ihr gut. Sie spielt mit Rubiks Zauberwürfel.«
»Sie braucht nur eine Minute dafür.« Der Gedanke daran zauberte ein Lächeln auf Sybils Gesicht.
»Wann bist du ihr zum ersten Mal begegnet?«
»In der Klinik. Ich war schon länger dort. Dann kam sie dazu. Sie redete nie viel und wusste nicht, weshalb sie dort war. Jahre später, als ich siebzehn war, mussten wir uns ein Zimmer in der Station teilen. Eines Nachts sprach sie im
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