Rachesommer
Tasche. Pulaski erklärte ihr, wie sie es einlegen musste.
»… und an der Seite sehen Sie den Sicherungshebel. Danach ziehen Sie den Schlitten zurück, und die erste Patrone gleitet in die Kammer.«
»Sie wollen doch nicht etwa, dass ich damit schieße?«
»Ich würde es selbst tun, aber meine Muskeln sind so schlaff wie Gummi. Das Botox wird meine Nerven sicher noch für ein paar Stunden außer Gefecht setzen.«
Evelyn zog den Schlitten zurück.
»Ho, ho!«, rief Pulaski. »Zielen Sie damit nicht auf mich!«
»Was soll ich tun?«
Plötzlich verlor sich Pulaskis Blick in der Ferne. Er starrte hinauf zum Oberlicht. »Das glaub ich nicht.«
Sie folgte seinem Blick. Durch das vergitterte Kellerfenster sah sie einen Teil des Gartens. Soeben gingen Bolten und Sybil daran vorbei. Die junge Frau trug einen schwarzen Pullover und eine ausgewaschene graue Jogginghose.
Evelyn erhob sich, trat näher ans Fenster, kletterte auf eine Holzkiste und stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Was sehen Sie?«, rief Pulaski.
Bolten und Sybil gingen nebeneinander über die Wiese zu dem Rasentraktor, der neben dem Komposthaufen stand. Die beiden ergaben ein merkwürdiges Bild. Bolten war fromm wie ein Lamm. Es sah aus, als ließe er sich von Sybil zur Schlachtbank fuhren.
»Was sehen Sie?«, drängte Pulaski.
Evelyn fand einen Putzlappen auf dem Sims und wischte damit ein Guckloch auf die rußige Innenscheibe.
»Es sieht so aus, als würde Sybil ihm eine Injektionsnadel an die Halsschlagader halten. Seine Arme hängen schlaff herunter. Er wankt, als würde er kurz vor einer Ohnmacht stehen.«
Pulaski lachte amüsiert auf. Es klang wie ein Anfall von Galgenhumor. »Die hat ihm tatsächlich seine eigene Spritze in den Hals gejagt.«
»Er kniet vor ihr nieder …« Evelyn verstummte. Es war unglaublich, was sie sah.
Bolten jammerte und flehte um sein Leben, doch Sybil riss ihm brutal den Kopf in den Nacken. Ihre Stimme drang dumpf durch das gekippte Kellerfenster. »Schau mal, was ich für dich vorbereitet habe.«
Sie öffnete den Tank des Rasentraktors und steckte einen Schlauch in die Öffnung. Das andere Ende stopfte sie in Boltens Rachen.
»Trink!«
Bolten schüttelte den Kopf. »Der Tank ist leer«, gurgelte er mit dem Schlauch im Mund, während seine Arme leblos den Boden berührten. Sein Oberkörper schwankte kraftlos vor und zurück.
»Ich habe Diesel in den Tank gefüllt. Und jetzt trink!«
»Das ist ein Benzinmotor«, presste Bolten hervor.
»So ein Pech!« Sybil schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. »Dann musst du das Diesel eben absaugen. Los jetzt!«
Bolten schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Als Sybil ihm die Nadel tiefer in den Hals trieb, tat er wie geheißen. Zunächst würgte er, doch Sybil zwang ihn, weiter an dem Schlauch zu saugen. Schließlich lief die gelbe Flüssigkeit durch den Schlauch, aber Sybil zog ihm das Endstück nicht aus dem Mund. Er schluckte, würgte, hustete und bekleckerte sich mit Diesel.
Dann trat Sybil einen Schritt zur Seite und griff in ihre Hosentasche.
»Was macht sie?«, fragte Pulaski.
Evelyn stand noch immer auf den Zehenspitzen und reckte den Kopf nach oben. »Ich sehe es nicht genau«, antwortete sie. »Ich glaube, sie holt eine Packung Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer hervor.«
»Sie wird ihn abfackeln!«, rief Pulaski. »Unternehmen Sie was!«
»Was denn?«
»Schießen Sie ein Loch in die Scheibe!«, brüllte Pulaski. »Und dann?«
»Halten Sie Sybil auf! Das ist glatter Mord! Sie müssen ihn verhindern!«
Einen Mord an diesem Kerl verhindern?, dachte Evelyn. Sie spürte, wie sie innerlich vollkommen ruhig wurde. Unwillkürlich dachte sie an die Jagdhütte im Wald und an den Mann, der sein Versprechen wahr gemacht hatte.
Falls sie je versuchen sollte, sich zu wehren oder zu befreien, würde er Sandra töten. Er hatte sie gewarnt, nicht nur einmal, aber sie wollte nicht auf ihn hören. Sie hatte gedacht, schlauer zu sein. Doch wer war mit zehn Jahren schon so clever, einen Verrückten auszutricksen? Die Ärzte konnten nichts mehr für Sandra tun. Nur ein paar Stunden, bevor die Polizisten die Hütte fanden, war sie erwürgt worden. Er hatte sie in der Nähe begraben, nicht einmal einen halben Meter unter der Erde, und faules Laub darüber gestreut. Als würde das ausreichen …
Danach sah sie sein Gesicht nur noch ein einziges Mal. Bei der Gegenüberstellung waren mehr Ärzte und Psychologen anwesend als
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