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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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bin schuld daran, dass sie das alles mit mir tun müssen. Ich versuche, immer gut zu sein, aber in meinem Inneren bin ich böse, schmutzig und eine Hure.
    Im Prinzip hätte jeder in der Anstalt, der vertrauenswürdig genug war, um nahe genug an Natascha heranzukommen, sie töten können. Der Mörder hätte sie nur mit der Flasche Gin betrunken machen müssen, um ihr dann die zwei Spritzen zu verabreichen. Meike, die Gerichtsmedizinerin, würde bei der Obduktion herausfinden, ob Natascha sich zuerst das Schmerzmittel injiziert und dann den Gin geschluckt hatte oder ob der Mörder sie zunächst betrunken und gefügig gemacht hatte, um ihr anschließend die Spritzen zu verabreichen.
    Es klopfte an der Tür. Pulaski sah auf. Eine attraktive Frau Mitte vierzig betrat den Raum. Wie eine Rechtsanwältin sah sie nicht aus.
    »Sie wollten mich sprechen?«
    Pulaski sah sie fragend an. »Wollte ich?«
    »Doktor Sonja Willhalm, ich bin … war Nataschas Therapeutin.«
    Pulaski erhob sich. »Nehmen Sie bitte Platz.«
    Sie blieb stehen. Als sie die Nase rümpfte, begriff Pulaski. Er blickte auf den vollen Aschenbecher. Gleich zwei angezündete Zigaretten qualmten nebeneinander. »Wir können uns im Garten unterhalten«, schlug er vor. »Ein paar Schritte würden mir nicht schaden.«
    Sie musterte ihn mit kritischem Blick. »Bestimmt nicht.«
    Doktor Willhalm erinnerte ihn an seine Frau. Sie trug das brünette Haar zu einem Knoten hochgesteckt, mit grauen Strähnen an der Seite, die Sonnenbrille im Haar, und Modeschmuckketten über der Bluse und an den Handgelenken, wie Karin sie auch getragen hatte.
    Als sie über den Kiesweg gingen, reichte Doktor Willhalm ihm eine Mappe. »Nataschas Krankengeschichte?«
    Sie schüttelte amüsiert den Kopf. »Nataschas komplette Historie ist mittlerweile fünf Ordner dick. Das ist nur die aktuelle Akte: Krankheitsbild, Therapie, medikamentöse Einstellung, die Einträge der Pfleger und der Krankheitsverlauf der letzten zwei Monate.«
    Überrascht nahm Pulaski das Dokument an sich. »Wie komme ich zu der Ehre?«
    »Ich kenne den Staatsanwalt«, erklärte sie. »In spätestens drei Stunden hätte ich die Mappe sowieso rausrücken müssen. Ein kurzes Telefonat hat die Sache nur beschleunigt.«
    »Sie sind der erste freundliche und hilfsbereite Mensch, der mir in dieser Anstalt begegnet.«
    »Das ist mein Beruf.« Sie lächelte auf eine besondere Art. Auch die erinnerte ihn an seine Frau.
    »Darf ich fragen, warum Sie diesen Beruf gewählt haben?«, fragte er.
    »Natürlich.«
    Sie sagte lange Zeit nichts, und er dachte schon, dass sie es dabei belassen würde, doch schließlich antwortete sie.
    »Kinder sind die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Gerade deshalb werden sie oft zu Opfern von Gewalt und sexuellem Missbrauch.«
    Immer wieder sind es andere, die nachts zu mir kommen. »Haben Sie Kinder?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nur meine Klienten. Mit Natascha habe ich sieben Jahre lang gearbeitet. Vor allem in letzter Zeit haben wir großartige Fortschritte erzielt. Sie war medikamentös perfekt eingestellt, eine leichte Mischung aus Sedativa, Neuroleptika und Antidepressiva. Sie hätte zu diesem Zeitpunkt nie und nimmer Selbstmord begangen.«
    »Ich weiß.«
    Am Ende des Kieswegs kamen sie zu einer Reihe von Sitzbänken, auf der einige jugendliche Patienten mit Pflegern saßen. Pulaski hörte das Klappern von Spielwürfeln in einem Becher. Dahinter lag ein bungalowartiges Gebäude mit breiten Fenstern im Schatten einer großen Linde, das ihn an einen Kindergarten erinnerte. Die Kinderpsychiatrie. Hinter den Scheiben sah er eine Gruppe von Buben und Mädchen im Kreis sitzen und malen.
    »Weshalb war Natascha hier?«
    »Nun, Sie können das alles nachlesen. Aber kurz gefasst beginnt ihre Krankengeschichte so: Mit neun Jahren wurde sie in eine Klinik in Bremerhaven eingeliefert und erstbehandelt.«
    Die Therapeutin erzählte ihm, dass Natascha zigfach vergewaltigt worden war. Die Kripo hatte den Täter nie ermittelt. Da Natascha eine Vollwaise ohne Angehörige war, wurde das Jugendamt aktiv. Wegen der schweren Traumatisierung des Mädchens entschied sich die Behörde jedoch gegen die Vormundschaft durch Pflegeeltern und wollte Natascha nach ihrer körperlichen Gesundung in die Obhut eines Kinderheims überstellen. Sowohl das Rote Kreuz als auch das SOS-Kinderdorf hätten sich um sie gekümmert, doch unterschiedliche ärztliche Gutachten verhinderten die Aufnahme. Nach einem Behördenkrieg, der

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