Rachesommer
fast achtzehn Monate dauerte, stand Nataschas Krankheitsbild endgültig fest: Sie litt an multipler Persönlichkeitsstörung und benötigte eine Psychotherapie und wegen ihrer Selbstmordversuche eine ganztägige Betreuung. Es gab nur zwei Spezialeinrichtungen für solche Fälle: eine Klinik in Göttingen, wo zu diesem Zeitpunkt kein Platz frei war, und Markkleeberg.
Sie kamen an einem Rosenbeet vorbei. Doktor Willhalm knickte eine Blüte ab und zerrieb die Blätter gedankenverloren zwischen den Fingern. »Seit dieser Zeit arbeite ich mit Natascha.« Sie roch an den Rosen.
»Haben Sie jemals herausgefunden, was ihr mit neun Jahren zugestoßen ist?«
Willhalm schüttelte den Kopf. »Die Mädchen einigermaßen lebensfähig zu machen, damit sie den Alltag bewältigen können, ist oft schwieriger, als die Vergangenheit aufzuarbeiten. Natascha hat drei Selbstmordversuche hinter sich, aber die liegen Jahre zurück.«
Pulaski dachte an die langen Narben an den Handgelenken.
»An guten Tagen hatte sie ein so sonniges Gemüt.« Willhalm lächelte. »Daher nannten wir sie so.«
Pulaski sah sie fragend an.
»Sommer, Natascha Sommer«, erklärte sie.
»Das war gar nicht ihr richtiger Name?«
»Nein.« Willhalm schmunzelte, als erinnerte sie sich an das kleine Mädchen von damals. »Wir nannten sie so wegen der vielen Sommersprossen auf ihrer Nase.«
»Und wie lautete ihr richtiger Name?«
Doktor Willhalm blieb abrupt stehen und starrte Pulaski an. »Das wissen Sie nicht?«
Pulaski verneinte.
»Ich erzählte ja vorhin, sie war eine Vollwaise. Bis heute kennen wir weder ihre Herkunft noch ihre wahre Identität.«
Pulaskis Gedanken überschlugen sich. Die osteuropäischen Gesichtszüge. »Sprach sie damals schon Deutsch, als man sie in der Klinik in Bremerhaven behandelte?«
Willhalm sah ihn traurig an. »Natascha hat bis zu ihrem Tod kein einziges Wort gesprochen.«
Während sie zur Anstalt zurückgingen, griff Pulaski in die Innenseite des Sakkos und holte eine Kopie von Nataschas Abschiedsbrief heraus. Bisher hatte er das Schreiben niemandem außer seinen Kollegen gezeigt. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er Sonja Willhalm vertrauen konnte. »Was halten Sie davon?«
Die Therapeutin kramte ein Etui aus der Handtasche und setzte eine schmale Lesebrille auf. Aufmerksam studierte sie die Zeilen. »Das ist Nataschas Handschrift.«
»Ich weiß«, antwortete Pulaski.
Doktor Willhalm schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben keine Ahnung, wovon ich spreche. Ich meinte, sie selbst hat das geschrieben, keine ihrer Teilpersönlichkeiten.«
»Reden Sie weiter«, sagte Pulaski.
Sie nahm die Brille wieder ab. »Die Aussetzer wurden innerhalb der letzten Jahre immer seltener. Es ist schwierig, das bei einer stummen Patientin festzustellen, aber sie fand zu sich selbst. Sie festigte ihre Persönlichkeit. Daher habe ich mich heute Morgen so gewundert, als ich erfuhr, dass sie sich das Leben genommen hat.«
Und damit lag sie richtig, dachte Pulaski. »Was halten Sie von dem Hinweis auf den sexuellen Missbrauch? Wurde der innerhalb der Klinik weitergeführt?«
Willhalm schüttelte entschieden den Kopf. »Das macht mich ja gerade stutzig. Natascha hat das zweifellos geschrieben. Aber weder Inhalt noch Wortwahl passen zu ihr. Niemand in der Anstalt hätte Natascha ein Haar gekrümmt.«
»Wie sicher sind Sie diesbezüglich?«
»So sicher, wie ich weiß, dass Sie mich betrachten, als würde ich Sie an jemanden erinnern, den Sie - vielleicht vor kurzem - verloren haben. Ihre Frau? Aber Sie tragen einen Ehering.«
Pulaski spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Wer mochte es schon, analysiert zu werden? »Habe ich Recht?«, hakte sie nach.
Schließlich gab er sich einen Ruck. »Karin hatte Krebs. Allerdings starb sie an einer falschen Dosierung der Chemotherapie.« Er räusperte sich. »Das ist fünf Jahre her.«
»Tut mir leid.«
»Das braucht es nicht. Vielmehr sollte es den behandelnden Ärzten leidtun.«
Er atmete tief durch und bemühte sich, Doktor Willhalm nicht wieder so anzustarren wie vorhin. »Aber weshalb sonst sollte Natascha so etwas schreiben? Hatte sie Wahnvorstellungen?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Natascha war nicht schizophren, sie hatte keine Wahnvorstellungen. Ihre Erlebnisse waren real. Allerdings hatte sie eine gespaltene Persönlichkeit. Das sind zwei grundverschiedene Krankheiten.«
Pulaski wollte nicht glauben, dass dem stummen, anonymen Mädchen, dessen Herkunft niemand kannte,
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