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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Strecke führte durch die Hamburger Innenstadt und Bremen und dauerte zwei Stunden. Die nördliche dauerte eine knappe Stunde länger und verlief entlang der Elbe. Da in den Nachrichten vor kilometerlangen Staus zwischen Hamburg und Bremen gewarnt wurde, entschied sich Evelyn für die nördliche Strecke entlang des Flusses.
    Während der Fahrt verzichtete sie auf die deutschen Radiosender und legte eine CD von Enya ein, die sie in das Seitenfach ihrer Reisetasche gesteckt hatte. Die Musik erinnerte sie an den gestrigen Abend und die Gespräche mit Patrick. Er hockte jetzt bestimmt in seiner Detektei, mit hochgelagertem Gipsbein, und zermarterte sich das Gehirn, wie es ihr wohl ergehen würde. Aber es war noch zu früh, ihn anzurufen. Er würde sie bloß mit guten Ratschlägen bombardieren, sie vor diesem und jenem warnen und am liebsten wieder zum Flughafen zurückdirigieren. Außerdem musste er noch etwas für sie herausfinden.
    Auf der Bundesstraße durch Uetersen und Elmshorn war erstaunlich wenig Verkehr. Nachdem Evelyn beinahe die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, endete der Weg, den der Routenplaner berechnet hatte, in Glückstadt am Ufer der Elbe. Als sie den breiten Fluss sah, der sich durchs Land wälzte, wusste sie, warum keine Brücke darüber führte. Dagegen wirkte die Wiener Donau wie ein Rinnsal, über das man spucken konnte. Insgesamt schien Norddeutschland aus anderen Dimensionen zu bestehen als der Rest der Welt. Die Städte waren langgezogen, die Flüsse breiter, die Landschaft weit, und die wenigen Menschen, denen sie bisher begegnet war, hatten unerschütterliche Ruhe ausgestrahlt. Mittlerweile hatte sie sich sogar an das obligatorische »Moin, Moin« gewöhnt, das ihr ständig begegnete, sobald sie sich nach dem Weg zur Fähre erkundigte.
    Eine halbe Stunde später rollte sie mit dem Wagen auf die Autofähre. Während das Boot ruckelnd Richtung Wischhafen ablegte, lehnte sie am Oberdeck an der Reling und hielt die Nase in den Wind. Die Böen fuhren ihr durchs Haar, und sie bildete sich ein, das Salzwasser zu riechen, obwohl das eigentlich noch nicht der Fall sein konnte. Zum Glück hatte sie auf Blazer und Anzughose verzichtet und trug stattdessen Turnschuhe, Jeans und einen Rollkragenpullover - den blauen Norweger ihrer Mutter mit dem Zopfmuster, der sogar bei Minusgraden warm hielt.
    Die Überfahrt dauerte etwas länger als zwanzig Minuten. Die Fähre pflügte durch milchigen Dunst, der über dem Wasser lag. Ein eisiger Wind strich über den Fluss. Während die Nebelhörner der Schiffe, die sich auf der Elbe tummelten, erklangen, telefonierte Evelyn zunächst mit Conny, der zehnjährigen Tochter ihrer Nachbarin, um sie zu bitten, Bonnie und Clyde während ihrer Abwesenheit mit Dosenfutter zu versorgen. Dann rief sie Patrick an.
    »Moin«, meldete er sich lapidar.
    »Wie geht’s dem Bein und der Gehirnerschütterung?«
    »Nichts, was nicht mit Parkemed und einem Eisbeutel im Genick zu kurieren wäre. Wo bist du gerade?«
    »Auf der Fähre nach Wischhafen.«
    »Wischhafen?«, wiederholte er und schwieg einen Moment, als müsste er diese Information erst verdauen. »Warum bist du nicht über Bremen gefahren?«
    Klugscheißer, dachte sie. »Diese Gegend ist viel romantischer«, flunkerte sie. »Fischer an den Molen, Schafe auf den Weiden, Nebel über dem Wasser. Was gibt es Schöneres, als den Morgen so zu beginnen?« Insgeheim fragte sie sich, ob es nicht doch schneller gegangen wäre, wenn sie den Stau riskiert hätte.
    »Es heißt Moin«, belehrte er sie. »Das solltest du in regelmäßigen Abständen sagen.«
    Ein Fischer mit Wollmütze und Holzfällerhemd marschierte an Evelyn vorbei. »Warum?«, fragte sie. »Um mich unbeliebt zu machen?«
    »Damit du in der Nebelsuppe nicht irrtümlich mit einem Ostfriesen zusammenstößt.«
    »Ach, bist du heute wieder witzig.« Evelyn verdrehte die Augen. Es war ein Fehler gewesen, ihn anzurufen - aber notwendig. »Hast du die Adresse?«
    »Natürlich, nenn mich Sherlock! Villa mit Grundstück, in der Nähe des Kurparks, da, wo die Elbe in die Nordsee mündet.«
    Patrick gab ihr Straßennamen und Hausnummer durch. Sie notierte es im Geiste.
    »Danke, ich melde mich wieder, sobald ich mehr über den Reeder weiß.« Sie legte auf, ohne seine Antwort abzuwarten.
     
    Gegen Mittag erreichte Evelyn Cuxhaven. Die Sonne hatte sämtliche Nebelfelder vertrieben. Sie ließ das Seitenfenster herunter und lauschte dem Kreischen der Möwen, die entlang des

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