Rachesommer
der Kommode. Eines der Fotos zeigte Greta Hockinson mit Gerte und Reiterhut neben einem edlen Rappen. Daneben stand ein gut aussehender Herr mit grauen Schläfen. »Ist das Ihr Vater?«
Greta erhob sich und reichte Evelyn das Bild. »Vater hat es immer zum Meer gezogen. Er liebte Leuchttürme, Spritztouren mit dem Wagen entlang der Küstenstraße oder mehrtägige Segeltörns nach Föhr, Sylt oder zu den ostfriesischen Inseln. Mich fasziniert das alles nicht. Sehen Sie, ich führe einen Reiterhof südlich von Cuxhaven - meine Welt sind die Pferde, nicht das Meer.«
Evelyn gab ihr das Foto zurück. »Ihr Vater war ein attraktiver Mann.«
Sie schmunzelte. »Keine Sorge, er wusste, dass er nicht schlecht aussah - und er hatte das nötige Kleingeld. Seine Freundinnen waren oft jünger als ich.« Ein Hauch von Abscheu schwang in ihrer Stimme mit.
Die gleiche Missbilligung hatte Evelyn schon in Patricks Stimme gehört, sobald er über seinen Vater sprach. Womöglich lebte Gretas Mutter nicht mehr - und falls sie keine Geschwister hatte, war sie die Alleinerbin der Villa und sonstigen Vermögenswerte, die ihr Hockinson hinterlassen hatte. »Darf ich fragen, wie er gestorben ist?«
»Durch eine Dummheit…« Greta ging zur Glastür und blickte zum Strand. Lange verharrte sie so. »Es ist kein Geheimnis und stand ohnehin in allen Zeitungen«, sagte sie schließlich. »Er starb wegen eines seiner Spleens. Am Wochenende fuhr er gern die Küstenstraße runter nach Bremerhaven, manchmal sogar bis nach Wilhelmshaven oder gar zur holländischen Grenze. Er nannte es Geschäftsreise. Meist traf er sich mit Freunden. Sie besuchten Casinos und Nachtclubs, übernachteten in teuren Motels und unterhielten sich über die Finanzmärkte. Nachdem Vater seine Schiffe verkauft hatte, legte er sein Geld in Aktien an - eines seiner Steckenpferde.«
Greta streifte gedankenverloren über die Blätter einer Yuccapalme. »Doch letzten Freitag kam er nicht weit. An der Küstenstraße beim Wurster Watt gibt es einen steilen Felshang in der Nähe des Leuchtturms. Vater war mit seinem Cabrio unterwegs gewesen und trug einen langen, mit Perlen bestickten Seidenschal, den der Wind aus dem Auto blies. Irgendwie muss sich der Schal im hinteren Fahrwerk verheddert haben …«
Evelyn hielt den Atem an, obwohl sie bereits wusste, wie die Geschichte ausging.
»Vater wurde stranguliert. Er stürzte mit dem Wagen in den Abgrund und brach sich beim Aufprall das Genick.«
»Wie schrecklich - mein aufrichtiges Beileid.«
»Danke.« Greta löste sich vom Anblick des Meeres und setzte sich wieder an den Tisch. Bisher hatte sie ihren Tee nicht angerührt. »Das Merkwürdige an der Sache ist, dass Vater keinen Seidenschal besaß. Nie im Leben hätte er ein so hässliches Ding getragen, nicht einmal sturzbetrunken in einem Nachtclub.«
»Woher hatte er ihn?«
Greta klopfte sich wieder mit dem Fingernagel gegen die Zähne. »Sehen Sie, das habe ich mich auch gefragt. Ich kenne einen ehemaligen Juristen, der wiederum einen guten Draht zum Staatsanwalt hat. Kurzum: Die Kripo begann zu ermitteln. Eigentlich versprach ich mir nicht viel davon, doch die Beamten fanden heraus, dass der Schal einen Tag vor Vaters Unfall in einer Boutique in Cuxhaven verkauft worden war.«
»An wen?« Eine dunkle Ahnung beschlich Evelyn. Unwillkürlich fröstelte sie.
»Die Ladenbesitzerin erinnerte sich an die Kundin«, erzählte Greta. »Es wurde ein Phantombild angefertigt, das alle lokalen Zeitungen brachten.«
Evelyn hörte nicht länger hin. Ihre Gedanken überschlugen sich. Zunächst zögerte sie, doch dann kramte sie das Foto der Geldautomatenkamera aus ihrer Handtasche, das aus jener Nacht stammte, in der Rudolf Kieslinger gestorben war. Sie reichte den Ausdruck Greta, die lange auf das Bild der jungen, blonden Frau im blauen Spaghettiträgerkleid starrte.
»Woher haben Sie das Foto?«
»Kennen Sie diese Frau?«, entgegnete Evelyn.
Statt eine Antwort zu geben, erhob sich Greta und ging zur Kommode. Sie wühlte in einer Schublade und zog einen Packen Dokumente hervor. Evelyn erkannte unter anderem den Briefkopf einer Rechtsanwaltskanzlei. Schließlich gab Greta ihr ein Blatt Papier. »Das ist die Phantomzeichnung der Frau, die den Schal gekauft hat.«
Evelyn stockte der Atem. Der Anblick der langen Haare war ihr vertraut, ebenso die schmalen, zerbrechlichen Gesichtszüge und dieser Blick, der sich verträumt in weiter Ferne verlor.
Das Mädchen im
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