Rachesommer
Döser Seedeichs flatterten. An manchen Stellen hörte sie sogar die Brandung an die Kaimauern schlagen. Hier roch es tatsächlich nach Salzwasser und Fisch.
Die Nordseeluft schmeckte herrlich. Evelyn liebte Fischrestaurants - und die im Wind schaukelnden Netze und die Klipper, die an den Molen ankerten, passten irgendwie zu der Idylle des Städtchens.
Die Elbe wurde immer breiter, und bald sah sie das offene Meer. Dann tauchten die ersten Bäume der Parkanlage auf, die Patrick beschrieben hatte. Zahlreiche Villen, Apartmenthäuser und Ferienwohnungen reihten sich aneinander. Irgendwo in der Nähe musste sich Hockinsons Privatgrundstück befinden. Evelyn kurvte durch die Gassen, bis sie endlich die richtige Hausnummer fand. Ein schmiedeeiserner Zaun verlief entlang der Grundstücksgrenze. Sie fuhr langsam daran vorbei und hielt einige Meter nach dem Eingang an. Das mächtige Tor stand offen. In der Einfahrt parkte ein Transporter der Firma Sicuro. Dem Logo zufolge ein Unternehmen, das Alarmanlagen baute.
Evelyn stieg aus dem Auto, drückte sich an dem Kastenwagen vorbei und betrat das Grundstück. Ein breiter Kiesweg führte zum Gebäude. In der Auffahrt stand ein metallic-schwarzes Motorrad. Der Schlüssel steckte. Ein Vollvisierhelm hing am Lenker. Dahinter lag die Villa. Mit offenem Mund starrte Evelyn auf das Haus. Normalerweise irrte sich Patrick nie. Noch einmal betrachtete sie die Hausnummer auf dem Tor. »Reeder müsste man sein«, murmelte sie.
Die zweistöckige Jugendstilvilla mit der großen Terrasse, den beiden Erkern und dem Türmchen mit dem grünen Kupferdach wirkte auf den ersten Blick wie ein Märchenschloss. Die Fensterläden, Blumenkästen und Weinranken, die sich an einem Holzgestell zur Regenrinne emporwanden, ließen das Haus schmuckvoll erscheinen.
Der Eindruck des Märchens verblasste jedoch, als sie die Kameras bemerkte, die unter dem Dachvorsprung hervorlugten und in den Garten blickten. Einige Arbeiter mit grünen Overalls marschierten über die Wiese und rollten eine Kabeltrommel auf. Aus dem Garten hörte Evelyn das Fluchen einer dumpfen Männerstimme. Zwei Arbeiter stritten sich in einem Pavillon, der im Schatten einer mächtigen Tanne stand. Hinter der Gartenlaube lag ein kleiner Seerosenteich, an dessen Ufer grünes Schilf wucherte.
Die Arbeiter ignorierten Evelyn. Unbemerkt betrat sie die Terrasse. Zwischen den Korbstühlen und einem Tisch, auf dem ein mit einem Hammer beschwerter Bauplan im Wind flatterte, hielt sie inne und sah sich um. Von hier aus konnte sie bis zum Meer sehen. Die Möwen kreisten über dem Strand. Das Rauschen der Wellen drang sogar bis zum Haus.
Evelyn klopfte an die offene Glastür.
»Hallo?«
Sie lugte ins Hausinnere und klopfte noch einmal an die Scheibe.
Endlich hörte sie ein Geräusch aus dem Haus. Eine Frau mit schwarzen Reiterstiefeln kam telefonierend die Treppe herunter und blieb im Wohnzimmer stehen. Als sie Evelyn erblickte, schaltete sie das Handy aus und kam zur Terrasse.
»Sind Sie von der Firma Sicuro?«
»Nein, mein Name ist Evelyn Meyers. Ich …«
»Sie kommen aus Österreich?« Die Frau trat einen Schritt zurück und musterte Evelyn mit dem kritischen Blick einer Schwiegermutter. Sie war etwa Mitte vierzig, gab jedoch in der Bluse und der engen Reiterhose eine beneidenswert gute Figur ab. Ihr dunkles Haar war straff nach hinten gebunden. Allerdings sahen die Augenbrauen unnatürlich aus - sie bestanden lediglich aus zwei dünnen Bögen -, und die langen Wimpern waren bestimmt unecht.
»Aus Wien, ich bin Anwältin«, sagte Evelyn.
»Wien, der Kaiser, Schönbrunn, das Riesenrad …« Es klang ein wenig spöttisch. »Was kann ich für das gnädige Fräulein Anwältin tun?«
»Bin ich hier richtig bei Hockinson?«, fragte Evelyn.
»Ja.«
»Beim Reeder Hockinson?«
Die Frau musterte Evelyn neugierig. »Soviel ich weiß, haben Sie keinen Termin. Was führt Sie von so weit hierher?«
Evelyn überlegte, wem sie gegenüberstand. Etwa Hockinsons Frau? War sie auf dem Weg zur Reitstunde, während ihr Mann vom Büro aus seine Schiffe dirigierte? Und wem gehörte das Motorrad in der Auffahrt?
»Ich würde gern mit Herrn Hockinson sprechen.«
Die Dame lächelte. Evelyn kannte diese Miene, die eine Mischung aus Bedauern und milder Schadenfreude bedeutete. »Da sind Sie ein paar Tage zu spät dran, Herzchen.«
Herzchen?
»Aber die Nachricht auf seinem Anrufbeantworter besagt, dass …«
»Ach was, der Anrufbeantworter!« Die Frau
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