Rachesommer
»Ich fasse es nicht. Ich wusste, dass du was ausheckst.«
Pulaski hörte, wie Fux die Faust auf den Tisch knallte. »Horst… Hallo?«
»Ja!«
»Und dann brauchen wir ein Spurensicherungsteam am Ost-Eingang der Anstalt. Wir haben Fußspuren, Reifenabdrücke und Blutspritzer des Verdächtigen.«
Fux seufzte. »Okay, ich kümmere mich darum, bleib erreichbar.« Er legte auf.
In diesem Moment knatterte ein Helikopter im Tiefflug über Pulaski hinweg. Das war ein gutes Zeichen - es bedeutete, dass Lesja noch lebte und die Sanitäter sie ins Krankenhaus bringen würden. Mit zitternden Knien erhob er sich, stützte sich an der Mauer ab und machte sich auf den Rückweg zur Anstalt. In weiter Ferne sah er, wie der Hubschrauber hinter den Bäumen in den Sinkflug ging.
Als Pulaski die Kapelle an der kleinen Lichtung erreichte und hineinblickte, fand er sie leer vor. Natürlich waren die Frauen angsterfüllt zur Anstalt gelaufen, nachdem sie die ersten Schüsse gehört hatten. Bestimmt breitete sich die Nachricht von der Schießerei wie ein Lauffeuer in der Psychiatrie aus.
Als Pulaski den Waldrand erreichte und auf die Wiese trat, sah er, wie die Sanitäter soeben eine Trage in den Helikopter hievten. Die Türen schlugen kaum zu, da ertönte auch schon das hochtourige Geräusch der Rotorblätter. Die Äste der umliegenden Bäume bogen sich, und Laub wurde über die Wiese gefegt. Sekunden später hob der Helikopter ab und knatterte in die Richtung davon, aus der er gekommen war.
Erst als Doktor Pinsger ihm entgegenlief und ihn von oben bis unten skeptisch musterte, bemerkte Pulaski, dass ihm das Hemd aus der Hose hing.
»Ich habe Schüsse gehört. Sind Sie verletzt?«
»Nein, ich bin in Ordnung.« Pulaski stopfte sich das Hemd in den Hosenbund. »Wie geht es Lesja?«
»Sie hat viel Blut verloren. Ihr Kreislauf ist kollabiert. Sie hatte einen Schock und wurde bewusstlos.«
»Hat sie noch etwas gesagt?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Es ist fraglich, ob sie durchkommt.«
Am liebsten hätte Pulaski laut geflucht. Er hatte nicht gedacht, dass seine Anspielung auf den Leichensack, mit dem er dem Mediziner gedroht hatte, so rasch Wirklichkeit werden könnte.
In der Zwischenzeit versammelten sich immer mehr Schaulustige vor dem Gebäude.
Pulaski nickte zum Wald. »Das Osttor wurde aufgebrochen.«
»Ich kümmere mich darum«, murmelte der Arzt. »Außerdem muss ich die Kriminalpolizei verständigen.«
»Habe ich bereits gemacht.«
Doktor Pinsger schob die Brille über die Nase. Für einen Moment beschlugen die Gläser. »Falls Lesja überlebt«, druckste er herum, »habe ich das Ihnen zu verdanken.«
»Und falls nicht …« Pulaski hatte ein merkwürdig schweres Gefühl im Magen. Lesja war ihre einzige Zeugin, die letzte Überlebende von vier Jugendlichen, die ihm die Frage beantworten konnte, was vor zehn Jahren in Bremerhaven passiert war. Die Kleine musste einfach durchkommen, sonst war alles umsonst gewesen.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Pinsgers Stimme klang besorgt.
Pulaski holte den Inhalator hervor. »Mein Asthmaspray ist leer.«
Der Arzt warf einen Blick auf die Marke. »Foster, ziemlich neu auf dem Markt. Ich besorge Ihnen eine frische Dose.«
»Danke - und haben Sie einen starken Kaffee und zwei Aspirintabletten für mich?«
»Kopfschmerzen?«
»Noch nicht.« Pulaski blickte zum Haupteingang. »Aber bald.« Pinsger drehte sich um.
Soeben kamen zwei metallic schwarze Audis den Weg herauf. Je nachdem, wen Horst Fux verständigt hatte, waren es entweder die Kollegen der Kriminalpolizei Göttingen oder des Landeskriminalamts Niedersachsen.
Jetzt würde der Tanz beginnen.
41
Evelyn hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, wie Holobecks Name und Unterschrift auf die Teilnehmerliste der Schiffsreise gekommen waren. Durch die geschlossene Tür von Hockinsons Arbeitszimmer hörte sie Schritte. Danach Gretas Stimme. Die Frau ging durch den Korridor. Anscheinend telefonierte sie mit dem Handy, da keine weitere Person zu hören war.
Eilig faltete Evelyn die Liste zusammen, stopfte sie in die Tasche ihrer Jeans und schob die Mappe in die Stellage zurück.
»Nein, ich werde Sie nicht mehr belästigen«, ertönte Gretas Stimme unmittelbar hinter der Tür.
Als die Klinke niedergedrückt wurde, fiel Evelyn beinahe das Herz in die Hose. Mit einem Satz huschte sie durch den Raum und presste sich neben dem Eingang an die Wand.
Die Tür wurde geöffnet. Evelyn stand dahinter und
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