Rachesommer
die Beine des Mannes an und drückte ab. Der erste Schuss ging daneben, der zweite traf. Der Mann fiel wenige Meter vor dem Tor der Länge nach hin. Doch er rappelte sich innerhalb weniger Sekunden wieder auf und humpelte weiter.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
Pulaski nahm ihn erneut ins Visier, doch ein Hustenanfall schüttelte ihn durch und ließ ihn sich zusammenkrümmen. Tränen schossen ihm in die Augen. Die Beine, die Beine! Ziel auf die verdammten Beine! Obwohl sein Blick verschwommen war, hob er die Waffe und drückte ab. Doch die Kugel verfehlte ihr Ziel. Im nächsten Moment war der Mann durch das Tor verschwunden.
Hustend und mit Schmerzen im Brustkorb, als würde ihm eine glühende Lanze zwischen die Rippen ins Zwerchfell gebohrt, wankte Pulaski auf das Tor zu.
Jeder Schritt bereitete ihm unsägliche Schmerzen. Als er die Stelle erreichte, an der er den Flüchtenden am Bein getroffen hatte, suchte er den Laubboden nach Spuren ab. Er fand tatsächlich Blutspritzer auf Steinen und Blättern. Mit einer gewissen Genugtuung ging er in die Hocke und tauchte die Fingerkuppe in den Tropfen ein und verrieb die Flüssigkeit zwischen den Fingern.
»Ich hoffe, du Mistkerl denkst lange an mich und hast verdammte Schmerzen dabei«, murrte er.
Da hörte er ein leises Motorengeräusch. Mit der Waffe im Anschlag folgte er der Blutspur zum Ausgang. Das Schloss war von außen mit einer Brechstange geöffnet worden. Das Messingblatt hing verzogen zur Seite, und Holzsplitter lagen auf dem Boden. Vorsichtig lugte er um das Tor herum. Neben der Mauer führte eine trostlose Landstraße in die Hügel. Dahinter befanden sich nur Wälder und abgemähte Äcker. Weit und breit waren weder ein Mann noch ein Wagen zu sehen.
Pulaski ging entlang der Blutspur weiter, bis sie nach wenigen Metern abrupt endete. Hier hatte der Fremde sein Fluchtfahrzeug abgestellt. In der feuchten Erde waren Fuß- und Reifenspuren zu erkennen.
Keuchend ließ sich Pulaski ins nasse Gras fallen und lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer der Anstalt. Er kramte das Spray aus der Tasche, schüttelte es und wollte inhalieren, doch die Dose war leer. Kraftlos ließ er den Arm sinken. Nur keine Panik! Er atmete tief und langsam durch. Die Muskeln durften sich nicht verkrampfen.
Mit tränenden Augen starrte er zur Mauer empor. Hier gab es keine Überwachungskameras wie in Markkleeberg. Trotzdem lächelte Pulaski. Der Mann, der Lesja die Pulsadern aufgeschnitten hatte, war so gut wie geliefert. Sie hatten nicht nur seine Schuhabdrücke und die Reifenspuren des Wagens, sondern über die Blutspritzer auch seine DNS.
40
Während Pulaski noch im Gras saß, zog er das Handy aus der Tasche und wählte die Büronummer von Horst Fux. Nach dem fünften Läuten sprang die Verbindung auf einen anderen Apparat. Malte hob ab.
»Hallo Urlauber, alles in Ordnung?«, meldete sich der Kollege, der offensichtlich Pulaskis Nummer auf dem Display erkannt hatte.
»Hör zu, ich brauche Fux, es ist dringend!«
»Du bist ja völlig außer Puste. Was treibst du denn? Bist du …?«
»Es ist dringend! Hol ihn her!«
»Der Chef ist in einer Sitzung. Wie stellst du dir das vor? Soll ich in den Besprechungsraum platzen?«
»Ja! Beeil dich!«
Pulaski hörte, wie Malte den Hörer auf den Tisch knallte und abdampfte.
Das Brennen in Pulaskis Brustkorb hielt immer noch an. Er hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund und spuckte mehrmals ins Gras.
Endlich hörte er Schritte.
»Pulaski, ich hoffe für dich, dass es verdammt wichtig ist. Im Nebenraum wartet der Staatsanwalt und wir …«
»Vertraust du mir?«
»Was soll das jetzt wieder? Verdammt ja, ich vertraue dir.«
»Okay, hör zu, du musst mir jetzt rasch helfen. Setz dich mit den Kollegen in Göttingen in Verbindung. Wir brauchen Straßensperren im Radius von fünfzehn Kilometer rund um die Psychiatrie Herberhausen im Osten Göttingens. Der Flüchtige ist der grauhaarige Mann, der in der Anstalt Markkleeberg zugeschlagen hat und nach dem wir bereits eine Fahndung rausgejagt haben.«
»Göttingen?«, brüllte Fux. »Was zum Teufel machst du in Göttingen?«
»Verdammt, jetzt hör mir doch mal zu! Wir brauchen Straßensperren, danach soll die hiesige Kripo Kontakt zu allen Ärzten und Krankenhäusern in der Umgebung aufnehmen. Der Verdächtige hat eine Schussverletzung am rechten Bein.«
»Wer zur Hölle …?«
»Ich habe den Kerl an der Wade erwischt.«
»Du hast deine Dienstwaffe dabei?«, brüllte Fux.
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