Rachesommer
wieder einfach so auf, während ich mit dir rede«, schnauzte er ins Telefon. »Ich habe Todesängste ausgestanden!«
Eine Kundin mit einer Tüte voller Briefe betrat das Postamt.
»Übertreib nicht«, flüsterte sie. »Ich schick dir gerade ein Fax.«
»Doch nicht etwa aus Hockinsons Haus?«
»Keine Sorge, ich bin bei der Post. Erstens bekommst du die Phantomzeichnung unseres blonden Mädchens …«
»Mata Hari, du hast das Bild doch nicht etwa geklaut?«
Evelyn antwortete nicht darauf. Schweigend legte sie die Passagierliste ein. »Und zweitens eine Gästeliste der Friedberg. Du wirst staunen, welcher Name sich darauf bef…«
Sie stockte mitten im Satz. Das Blatt wurde vor ihren Augen mit der Rückseite nach oben in das Faxgerät gezogen. Für einen kurzen Moment war der Name Smolle wie ein Geist an ihr vorbeigehuscht.
»Was?«, rief Patrick. »Welche Gästeliste?«
»Einen Moment.« Evelyn zog das Blatt am anderen Ende aus dem Papierschlitz. Während das Gerät wählte, überflog sie die Rückseite der Liste.
Hier stand es, schwarz auf weiß: Paul Smolle. Er war der Kapitän der Friedberg gewesen.
43
Nachdem Evelyn auf die Faxbestätigung gewartet und sie anschließend zerrissen hatte, war sie wieder in ihren Wagen gestiegen.
Während sie entlang der Elbe zurück zur Autofähre nach Wischhafen fuhr, telefonierte sie über die Freisprechanlage ihres Handys mit Patrick. Es würde ein langes Gespräch werden. Sie musste Patrick allerhand erklären, vor allem, wie sie an die beiden Papiere gekommen war, die sie ihm gefaxt hatte.
»Ziemlich schlau von dir, dass du sicherheitshalber deine Visitenkarte in der Villa gelassen hast - für den Fall, dass dich Greta wegen Einbruchs drankriegen möchte«, ätzte er.
Klugscheißer! Sie wusste selbst, dass es keine Glanzleistung gewesen war.
»Aber es ist okay, Spitzmausigel. Endlich haben wir etwas in der Hand. Die Liste ist leserlich, aber der letzte Name ist durchgestrichen. Kannst du auf dem Original was erkennen?«
»Keine Chance.«
»Vielleicht lässt sich was machen, wenn wir der Kripo das Original geben. Ich fahre mit dem Taxi aufs Revier und …«
Bei dem Gedanken krampfte sich Evelyns Magen zusammen. »Bevor du den Beamten die Liste gibst, möchte ich, dass du dir die Namen vornimmst und versuchst, mehr über die Männer rauszufinden.«
»Warum plötzlich so zögerlich, Dornröschen? Gestern konnte es dir nicht rasch genug gehen, dass wir zur … oh, Scheiße!«, fluchte er.
Er hatte es endlich gefunden.
»Unser Freund Holobeck steht auch drauf.«
»Deshalb möchte ich nicht, dass du die Liste gleich den Beamten unter die Nase hältst.«
»Oh, Mann!«
Evelyn hörte förmlich, wie sich Patricks Gedanken überschlugen.
»Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja«, antwortete sie leise. »Finde bitte raus, wer die anderen sind. Waren sie auch schwul? Wurden sie auch erpresst?«
»Ja, ja, ich weiß, was zu tun ist.«
Natürlich wusste er das, schließlich verdiente er seine Brötchen mit derartigen Jobs.
Sie drosselte das Tempo und lenkte den Wagen an einer Schafherde vorbei. »Aber vorher möchte ich dich um einen anderen Gefallen bitten. Ein gewisser Paul Smolle war der Kapitän der Friedberg.« Sie buchstabierte den Namen. »Finde raus, wo er wohnt, und ruf mich an, sobald du es weißt. Es ist dringend.«
»Mach ich, aber vielleicht lebt der Kerl gar nicht mehr.«
»Oh, doch«, widersprach sie. »Ich habe vor einer halben Stunde mit ihm telefoniert.«
Kurz vor drei Uhr nachmittags stand Evelyn an der Reling der Autofähre, die sich ihren Weg durch die Elbe pflügte. Immer noch zogen Nebelschlieren über das Wasser. Das änderte sich hier wohl nie.
Endlich rückte das Festland auf der anderen Seite näher. Stück für Stück schälten sich zuerst das Fährhaus und dann die Anlegestelle in Glückstadt aus der trüben Suppe. Ein Nebelhorn tönte über den Fluss.
Evelyn hatte sich vor der Abfahrt eine Cola, einen Hotdog und einen Schokoriegel gekauft. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie in das Brötchen biss, war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie hungrig sie war.
Mittlerweile hatte sie den Rollkragen ihres Norwegers fast bis zu den Ohren gezogen. Es wurde kälter, und ein eisiger Wind kam von Norden auf. Zudem ließen die Ereignisse der letzten Stunden sie auch innerlich zittern. Sie kaute an dem Riegel. Angeblich beruhigte Schokolade die Nerven. Falls das stimmte, hatte sie sie mehr als nötig.
Nachdem sie mit dem Leihwagen von
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