Rachesommer
hatte sie ein weiteres Puzzleteil, das Patrick auswerten konnte.
Als sie vor einem Fußgängerüberweg anhalten musste und darauf wartete, dass eine Großmutter mit ihren Enkelkindern die Straße überquerte, läutete ihr Handy auf dem Beifahrersitz.
Patrick war ein Quälgeist. Er konnte nicht einmal eine Stunde warten, bis sie sich bei ihm meldete.
Sie hob ab. »Patrick, du nervst!«
Es knackte in der Verbindung. Niemand antwortete.
»Patrick?«, fragte sie.
Nichts.
»Mit wem spreche ich?«, fragte sie, obwohl sie es längst wusste. »Herzchen, weshalb haben Sie im Büro meines Vaters herumgeschnüffelt?«
Die Oma hatte die Straße längst überquert. Hinter Evelyn hupten die anderen Autos bereits. Wie in Trance legte sie den Gang ein und fuhr los.
»Sie haben Glück, dass meine Überwachungskamera noch nicht funktioniert, sonst hätte ich Sie auf Video. Also …« Greta wiederholte ihre Frage mit einer Ruhe, die beängstigend war.
Evelyn hätte sich vor Wut die Haare raufen können, weil sie ihre Visitenkarte auf dem Korbtisch zurückgelassen hatte. Andererseits war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie das Versteckspiel mit Greta bleiben lassen konnte. »Was ist vor zehn Jahren auf der Friedberg passiert?«, fragte sie.
»Warum sind Sie in mein Haus eingebrochen?«
Evelyn umklammerte das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Auf diese Weise kamen sie keinen Schritt weiter.
»Eine von uns beiden sollte die Kripo verständigen«, schlug Evelyn vor. »Dann können wir die Sache mit dem Einbruch und der Friedberg klären.«
Eine klassische Patt-Situation.
Greta Hockinson legte auf.
42
In dem kleinen Postamt am-Ortsende von Cuxhaven saß nur ein junger Mann mit Nickelbrille hinter dem Schalter. Zwei Faxseiten nach Österreich kosteten fünf Euro. Evelyn drückte ihm zehn in die Hand. Dann betrat sie die Nische, in der das Faxgerät stand.
Sie tippte die Vorwahl von Österreich in die Maschine, gefolgt von der Faxnummer in Patricks Büro. Bevor sie die Passagierliste einlegte, überflog sie noch einmal die Namen.
Smolle …
Sie wusste nicht einmal, ob es sich dabei um einen Vor- oder Nachnamen handelte. Verzweifelt suchte sie nach einem Smolle, doch keiner der gut ein Dutzend Gäste hieß auch nur annähernd so. Mit wem hatte Greta telefoniert? Wer war dieser Mann mit der rauen Stimme?
Der letzte Name auf der Liste war durchgestrichen. Sie konnte das Blatt in alle Richtungen drehen und wenden und sogar gegen das Licht halten, doch der Name des letzten Passagiers war unkenntlich gemacht worden. War das Smolle gewesen?
Wieder stachen ihr Holobecks Name und Adresse ins Auge. Und wieder versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich in der Brust. Sie kannte Holobeck seit den Tagen ihrer Ferialpraxis in Kragers Kanzlei. Der Mann hatte ihr alle Tricks beigebracht, die ein Rechtsanwalt kennen musste. Bis auf seine so genannten Spritztouren nach Thailand unternahm Holobeck keine Urlaube. Hatte die Reise auf der Friedberg womöglich etwas mit seiner Homosexualität zu tun? Evelyn überflog die Namen ein weiteres Mal. Nur Männer! Ihre Kehle wurde so rau und trocken wie Schleifpapier. Wieder dachte sie an das heiße Kribbeln im Magen, als sie das letzte Mal mit Holobeck telefoniert hatte. Wann immer dieses Gefühl auftauchte, war etwas faul - darauf konnte sie sich verlassen wie auf das Amen in der Kirche.
Falls Holobeck tatsächlich auf dem Schiff gewesen war, hatte er sowohl Rudolf Kieslinger als auch Heinz Prange gekannt. Nun wurde ihr auch klar, weshalb Holobeck entgegen den üblichen Kanzleiprinzipien eine Privatperson als Klient gegen eine Firma vertreten hatte. Der Airbag-Fall! Womöglich hatte Holobeck nicht nur zu Prange, sondern auch zu dessen Witwe Kontakt gehabt und ihr einen Freundschaftsdienst erweisen wollen. Jedenfalls musste Holobeck einen verdammt guten Grund gehabt haben, Evelyn die Zusammenhänge zu verheimlichen. Deutlich waren ihr noch seine Worte bei ihrem letzten Telefonat in Erinnerung. Evelyn, halten Sie sich aus dieser Sache raus. Die beiden Fälle hängen nicht zusammen.
Und ob sie zusammenhingen! Holobeck hatte mittendrin gesteckt. Für einen Moment hatte Evelyn das schaurige Bild vor Augen, wie das Mädchen im Spaghettiträgerkleid Holobeck über die Balkonbrüstung stieß. Sie schüttelte den Gedanken ab, legte das Phantombild in das Faxgerät und drückte auf Senden.
Während das Papier durchratterte, rief sie Patrick mit dem Handy an.
»Hör mal, leg nie
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