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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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erfuhr nie, woher sie kamen. Irgendwie wollte er auch nicht zu viel über sie wissen. Manche sprachen nicht einmal Deutsch. Vielleicht waren es Waisen oder Straßenkinder, die niemand vermissen würde. Er hatte Hockinson nie danach gefragt. Er hätte ohnehin keine Antwort erhalten.
    Offiziell wusste er nicht, was an Bord vorging, aber solche Dinge blieben natürlich keinem an Deck verborgen. Ein Blick in die Kabinen genügte. Die Zimmer waren besser ausgestattet als jedes Nobelbordell, das er bisher gesehen hatte - und er war in einigen gewesen. Es gab Kameras, Lederriemen und Werkzeuge aus Metall. Außerdem waren die Räume schalldicht isoliert.
    Manchmal artete es aus. Für solche Fälle hatten sie einen alten Arzt an Bord, dem die Lizenz entzogen worden war und der die Kleinen zusammenflickte, damit sie wieder aufrecht stehen konnten. Sie durften nicht zu lange ausfallen. Anschließend wurden sie wieder runtergebracht.
    Die Duschen im untersten Deck funktionierten nur mit lauwarmem Wasser. Schließlich waren es bloß nachträglich eingebaute Kammern im Frachtraum, unmittelbar neben dem Dröhnen der Maschinen. Einige Stockbetten, ein Schrank und eine Toilette für alle. Die Heizkörper waren zu schwach für die Räume. An manchen Tagen war es da unten so kalt, dass man den Atem vor dem Gesicht sehen konnte.
    Smolle brachte den Kindern Pullover, Decken, warmes Essen, volle Teekannen, Vitamintabletten und einigen sogar Antibiotika. Manchmal sah er in ihre Augen. Diesen Anblick würde er nie vergessen. Sie wussten nicht, wer sie hergebracht hatte, wo sie sich befanden oder was als Nächstes mit ihnen passieren würde. Sie wussten nicht einmal, wie lange es noch dauern sollte. Jede Fahrt ging über neun Tage. Aber die Saison lief bereits seit Mai. Und auf dieser letzten Reise passierte es schließlich.
    Im großen Salon stieg eine Party. Hockinson hatte sie nicht mehr unter Kontrolle. Alles lief aus dem Ruder. Die Kinder schrien. Smolle hörte die Angst noch zwei Decks höher im Kommandoraum. Dann starb der Junge. Waren es die Drogen, die Gewalt oder die Vergewaltigungen, die in jener Nacht einfach nicht aufhörten? Niemand konnte das nachher genau sagen.
    Der Junge hieß Manuel. Er war der achtjährige Knabe. Smolle konnte sich noch an sein Gesicht erinnern. Hockinson und seine Gäste vertuschten es als Unfall. Die Leiche wurde zwei Tage später irgendwo in den Dünen vergraben.
    Hockinson und seine Gäste wollten Manuels zehnjähriger Schwester weismachen, dass sie am Unfalltod ihres Bruders schuld sei. Nachher wurden die Kinder unter Drogen gesetzt und an der Küste sich selbst überlassen, während die Friedberg wieder in Bremerhaven einlief… mit einem Fährmann am Steuer, der ständig das Bild des toten Jungen vor Augen hatte.
     
    Smolle liefen die Tränen über die Wangen.
    »Das Mädchen hieß Lisa.« Er verbarg sein Gesicht in den Händen. »Ich sehe sie vor mir. Fast jede Nacht. Sie saß halb nackt in der Ecke, hielt den Kopf ihres Bruders in den Armen und strich ihm durchs Haar, das ihm schweißnass in der Stirn klebte, während die anderen nur herumstanden …«
    Er verstummte. Der Wind peitschte den Regen gegen den Wohnwagen.
    Eine unglaubliche Kälte breitete sich in Evelyn aus. Sie konnte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Er sprach von Mord, Kindesmissbrauch und einer organisierten Kreuzfahrt, die monatelang angedauert hatte. Sie dachte an die Anzeigen gegen Prange und Kieslinger wegen Kinderpornografie im Internet - und plötzlich ergab vieles einen Sinn. Ihr wurde übel. Holobeck, ihr Mentor und souveräner Kollege, war ebenfalls an Bord gewesen. Seine homosexuelle Neigung war für sie nie ein Problem gewesen. Bis heute.
    £5 waren ja noch Kinder.
    Evelyns Magen zog sich auf die Größe einer Walnuss zusammen. Sie bekam keine Luft. Hastig zerrte sie am Kragen ihres Pullovers.
    »Haben Sie einen Schluck für mich?«, krächzte sie.
    Smolle holte eine ungeöffnete Rumflasche aus dem Schrank und füllte Evelyns Tasse. »Ich kann mir denken, wie Sie sich fühlen.«
    »Können Sie nicht.« Gierig leerte sie den Becher. Der Rum wärmte sie. Langsam löste sich der Knoten in ihrem Magen. Sie konnte wieder durchatmen und einen klaren Gedanken fassen. Kinder. Immer waren es Kinder. Sie konnten sich am wenigsten wehren. Vielleicht lag es daran, dass gerade ihnen die meiste Gewalt widerfuhr.
    Sie zwang sich, auf andere Gedanken zu kommen.
    »Diese Lisa müsste heute etwa zwanzig Jahre alt sein, nicht

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