Rachesommer
dieser Sekunde wusste sie, dass er schwul war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie es diesmal nicht auf die übliche Tour hinbekommen würde. Nicht bei ihm. Ihr Plan würde nicht funktionieren. Außerdem hielt er ein Mobiltelefon in der Hand. Unmöglich, einen Blick auf das Display zu erhaschen, aber gewiss hatte sie ihn aus einem Gespräch gerissen. Du musst improvisieren, schoss es ihr durch den Kopf.
Ohne zu überlegen riss sie ihm das Telefon aus der Hand, unterbrach die Verbindung und schlug ihm das Gerät mit voller Kraft an die Schläfe.
Er taumelte zurück. Sofort setzte sie nach und schlug ihm die Handykante erneut ins Gesicht, bevor er die Hände schützend hochnehmen konnte. Schließlich ging er stöhnend vor ihr zu Boden.
Während sich seine Pupillen verdrehten, als stünde er kurz vor einer Ohnmacht, trat sie die Tür hinter sich zu. Krachend fiel sie ins Schloss.
Sie hatte nicht einmal eine Sekunde lang weggesehen, da versuchte er schon, sich aufzurappeln.
»Sie waren in Deutschland …«, keuchte er und fuhr sich mit dem Handrücken über Nase und Wange, wo er einen schmierigen roten Streifen hinterließ. »Sie haben Prange getötet!«
Für einen Moment hielt sie inne. Wie konnte er davon wissen?
»Es war mein Fall! Zeugen haben Sie beschrieben. Ich ahnte, dass Sie eines Tages auch hier auftauchen würden.«
Ihr Herz raste. »Schluss mit dem Gerede!« Sie holte aus und rammte ihm das Handy gegen das Nasenbein. Er zuckte zusammen, dann sackte sein Kopf nach vorne.
Stöhnend tastete er nach der Wunde. »Sie kommen nicht damit durch, ich…«
»Ruhe!« Als sie erneut ausholte, zuckte er zusammen. Mittlerweile lief ihm Blut von der Nase auf das Poloshirt. Sie musste etwas unternehmen, bevor es auf den Parkettboden tropfte, auch wenn sie es nun ohnehin nicht mehr wie einen Unfall aussehen lassen konnte. Außer…
Sie stopfte das Handy in die Tasche ihrer Jeans und sah sich eilig in der Wohnung um. Der Balkon! Sie packte den Mann von hinten unter den Achseln und zerrte ihn durchs Wohnzimmer zur offenen Balkontür. Wie ein nasser Sack hing er in ihren Armen. Sie wunderte sich, woher sie die Kraft nahm, mit der sie ihn hinter sich herschleifte.
Kurz bevor sie die Balkontür erreichte, begann er, um sich zu schlagen. Doch da waren sie schon im Freien. Der kühle Wind fuhr ihr durchs Haar. Die Nachmittagssonne stand tief und schien gleißend in die Loggia. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stemmte sie den Mann hoch und stieß ihn gegen das Geländer. Dreiundzwanzigstes Stockwerk. Panisch fuhr er herum. Seine Augenlider flatterten. Für einen Moment sackten seine Knie ein, doch dann fing er sich und rappelte sich auf. Seine Hände schlugen wild durch die Gegend und griffen nach dem erstbesten Gegenstand, den er erwischen konnte.
Um ein Haar hätte er mit der Besenstange ihr Gesicht getroffen. Dieser verdammte Idiot wollte sein Schicksal nicht akzeptieren. Sie stürmte wie eine Furie nach vorne, packte den Besen mit beiden Händen und drückte dagegen, sodass der Mann rücklings über das Geländer kippte. Sogleich ließ er die Stange los. Mit einer Hand griff er nach dem Geländer, mit der anderen nach dem Vogelkäfig, der an einem Deckenhaken baumelte. Der Wellensittich kreischte und schlug panisch mit den Flügeln. Federn stoben durchs Gitter.
»Tun Sie das nicht…«, brüllte er.
Sie drückte die Besenstange mit aller Kraft gegen seine Gurgel. Er verlor das Gleichgewicht. Sie drängte ihn weiter hinaus, bis seine Beine den Kontakt zum Boden verloren. Verzweifelt klammerte er sich an den Käfig. Die Tür sprang auf, der Vogel entwich ins Freie. Da brach der Haken aus der Decke.
Plötzlich ließ der Widerstand des Mannes nach. Wie in Zeitlupe kippte er über das Geländer.
Bisher war es stets ein Gefühl des Triumphs und der Erleichterung gewesen, den Männern beim Sterben zuzusehen, ihren letzten Atemzug zu spüren, ihre brechenden Pupillen zu betrachten und das Erstarren des Brustkorbs, der sich niemals wieder heben oder senken würde. Doch diesmal war es anders. Der letzte Blick in seine Augen war keine Genugtuung. Der Ausdruck seines Gesichts verriet so viel … Reue, Scham, Hilflosigkeit, ein Flehen und die Bitte nach Vergebung, dass sie sogar für einen Moment nach seinem Poloshirt griff.
Der Stoff glitt durch ihre kraftlosen Finger, dann sausten seine Beine an ihrem Kopf vorbei. Scheppernd knallte der Käfig gegen das Geländer. Mit dem Vogelhaus in der Hand stürzte er in die
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