Rachesommer
Tiefe.
Sie sah nicht hinunter. Stattdessen ließ sie den Besen fallen und taumelte rückwärts von der Loggia in die Wohnung. Wie viel Zeit blieb ihr? Hastig sah sie sich um. In einer Nische stand ein Drehstuhl hinter einem Schreibtisch mit PC. Sie rollte den Stuhl auf die Loggia und stieß ihn mit dem Fuß gegen die Scheibe der Balkontür. Glas splitterte. Danach zerrte sie den Staubsauger aus der Abstellkammer auf die Loggia und steckte das Stromkabel in die Steckdose. Sicherheitshalber schaltete sie das Gerät ein. Das Gebläse übertönte das Geschrei der Menschen, das von der Straße in den dreiundzwanzigsten Stock drang. Es wurde Zeit, die Wohnung zu verlassen.
Vor der Eingangstür hielt sie inne. Sie zog das blutbesudelte Handy aus der Hosentasche und betrachtete das Display. Es hatte einen Sprung, und blonde Haare klebten zwischen den Tasten. Für einen Augenblick musste sie würgen. Sie konnte das Handy unmöglich hier lassen - und es war zu spät, es über den Balkon zu werfen.
Gedankenverloren steckte sie es wieder in die Tasche und wischte sich die blutigen Finger an den Jeans ab. Danach nahm sie den Reserveschlüssel für die Wohnungstür vom Schlüsselbord. Der Einzige, der bemerken würde, dass er fehlte, lag reglos auf dem Straßenasphalt.
Sie schlüpfte hinaus und versperrte die Wohnung. Niemand war im Flur. Verhaltenes Gemurmel im Treppenhaus, klappernde Schritte, irgendwo das Klingeln einer Fahrstuhltür.
Sie steckte den Schlüssel in die Hosentasche und verschwand durch die Feuertür ins Treppenhaus.
Stunden später erreichte sie den Wiener Westbahnhof und fuhr mit ihrer Reisetasche auf der Rolltreppe zu den Bahnsteigen hinauf. Es war Nacht. Alles war erledigt. Sie war fertig mit dieser Stadt.
Sie musste zum Bahnsteig elf, hatte ihr der Mann am Ticketschalter erklärt. Der Nachtzug stand bereits dort und wartete. Abfahrt in zehn Minuten.
Sie ging nach vorne, zum ersten Wagon, wo sich die reservierten Schlafabteile befanden. Eine Koje in einem der Stockbetten gehörte ihr. Nachdem sie ihre Tasche ausgepackt hätte, würde sie nur einen kurzen Blick in den Speisewagen werfen, ein Sandwich und eine Getränkedose kaufen - oder, wenn keiner hersah, vielleicht sogar klauen. Sie hatte genug Geld, aber der Drang zu stehlen steckte einfach in ihr drin. Es war ihre zweite Natur. Ein Brot und eine Wasserflasche reichten vollkommen aus. Ihr knurrte zwar der Magen, aber zu mehr war sie nicht mehr fähig. Todmüde würde sie in ihr Kopfkissen sinken und träumen - denselben Traum wie immer -, während der Wagen mit dem ewig gleichen, einschläfernden Geräusch über die Gleise holperte.
Über den Bahnsteig hallte die Lautsprecherdurchsage, dass der Zugpünktlich abfahren werde.
Sie blickte durch die große Glasfront auf die Stadt, die sich wie ein dunkler Teppich unter ihr ausbreitete. Graue Hauswände, Stukkaturen und Gipsarbeiten an den Fenstern, dunkelrote Dachschindeln, rostige Dachrinnen und vom Ruß geschwärzte Schornsteine. Einige flackernde Neonreklamen tauchten die Straße in eine Melange aus trüben Farben. Eine Straßenbahn fuhr vorbei. Funken spritzten von der Oberleitung in die Nacht.
Es war wie beim letzten Mal, als sie die Benefizveranstaltung besucht hatte. Vieles an dieser Stadt kam ihr auch jetzt bekannt vor, als hätte sie einige Jahre hier verbracht. Sie war sich nicht sicher. Hatte sie das tatsächlich?
Vielleicht war jemand anders hier gewesen und hatte ihr bloß davon erzählt? Doch wer hätte das sein sollen? Sie kannte doch niemanden. Mit einem Mal dachte sie an das Mädchen. Sollte sie ihm erzählen, was in dieser Stadt vorgefallen war?
Das Läuten eines Handys riss sie aus den Gedanken. Es war ihr Handy, das in der Hosentasche vibrierte. Vielleicht war sie es. Eilig stellte sie die Reisetasche zu Boden, zog das Mobiltelefon heraus und nahm das Gespräch entgegen.
»Lisa. Hallo? Ich habe deinen Anrufer…« Sie stockte.
Eine fremde Stimme drang aus dem Mobiltelefon.
Im nächsten Moment erinnerte sie sich, wessen Handy sie ans Ohr hielt.
Langsam nahm sie es herunter und starrte angewidert auf das gesprungene dunkelrote Display. Sie erinnerte sich an die blutverschmierten Haare. Jetzt war nichts mehr davon zu sehen. Hatte sie sich das im Apartment bloß eingebildet, oder hatten sich die Haare an der Innenseite der Hosentasche abgerieben?
Sie würgte.
Angeekelt unterbrach sie die Verbindung. Sie reinigte das Handy mit dem Ärmel ihres Pullovers und ließ es in den
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