Rachesommer
Mülleimer plumpsen, wo es in einem Berg Zeitungspapier verschwand.
Eine erneute Lautsprecherdurchsage holte sie in die Realität zurück. Der schrille Ton aus der Trillerpfeife fuhr ihr schmerzvoll durch den Kopf.
Sie stand vor der Tür des ersten Wagens. Der Zug begann bereits zu rollen. Die Kupplungen schlugen scheppernd aneinander. Schwerfällig setzten sich die Räder in Bewegung.
Da hörte sie hinter sich ein erneutes Klingeln aus dem Mülleimer. Unschlüssig wandte sie sich um. War es diesmal das Mädchen?
Wieder blickte sie zum Zug, der im Begriff war, den Bahnhof zu verlassen. Hinter ihr läutete das Telefon, vor ihr rollte der Wagen vorbei. Sie atmete schwer. Hastig ging ihr Blick hin und her.
Schließlich packte sie ihre Reisetasche und sprang auf das Trittbrett.
Sie zuckte zusammen, als die altmodische Falttür auseinanderklappte. Vor ihr stand der Schaffner, der ihr die Hand reichte, um sie ins Wageninnere zu ziehen.
Er grinste. »Gerade noch rechtzeitig, Fräulein.«
»Vielen Dank.«
»Wohin geht die Reise?«
Sie griff in die Jeans nach dem Fahrschein. Neben der Karte spürte sie einen spitzen Gegenstand. Der Apartmentschlüssel, schoss es ihr durch den Kopf. Sie würde ihn während der Fahrt aus dem Fenster werfen - irgendwo in einem Tunnel, wo ihn niemand finden würde.
Gedankenverloren reichte sie dem Schaffner das Bahnticket. »Oh, nach Cuxhaven«, sagte er. »Eine weite Fahrt.« Er entwertete die erste Teilstrecke. Sie nahm das Ticket wieder an sich und ging zum Speisewagen.
Freitag, 19. September
52
Evelyn hatte Niebüll und Flensburg im wahrsten Sinn des Wortes links liegen lassen. Im Moment gingen ihr andere Gedanken durch den Kopf, als in Flensburg ihre Aussage zu machen. Stattdessen war sie mit dem Leihwagen bis Hamburg durchgefahren - und hatte dabei ständig Lisas Gesicht vor Augen.
Am nördlichen Stadtrand fand sie an der ersten Autobahnabfahrt ein Motel, in dem sie ein Zimmer mietete. Der Inhaber fragte nicht lange, sondern reichte ihr eine Magnetkarte, nachdem sie bezahlt hatte. Im Vorraum schlüpfte sie sogleich aus den Kleidern, schluckte zwei Aspirin, vermied den Blick in den Spiegel und stieg in die Duschkabine.
Kurz nach neun Uhr saß sie in Jeans, einem T-Shirt und dem blauen Norweger im Frühstücksraum bei einer Tasse starken Kaffee und kaute an einem Stück Brot. Ihr brummte immer noch der Schädel wegen der schlaflosen Nacht, doch die Tabletten würden die Schmerzen bald vertreiben - so wie immer. Leider gab es kein Mittel gegen die Erinnerung an die gestrigen Vorfälle. Immerzu dachte sie an Lisa, jenes Mädchen, das vor zehn Jahren in die Kinderpsychiatrie Ochsenzoll eingeliefert worden war.
Am Internetpoint des Motels fand sie heraus, dass die Psychiatrie Ochsenzoll, ein Teil der Asklepios-Klinik, zwischen den Ortsteilen Garstedt und Langenhorn lag, also nicht weit entfernt. Sie druckte einen Lageplan aus. An Schlaf war nicht zu denken. Sie griff nach ihrer Zimmerkarte. Es wurde Zeit auszuchecken.
Evelyn brauchte mit dem Wagen knapp zwanzig Minuten in die Langenhorner Chaussee. Das kreisförmige Gelände der Klinik war bewaldet und bestand aus zahlreichen einzelnen Gebäuden, die wie eine autonome Siedlung wirkten. In einer dieser Stationen musste Lisa untergebracht gewesen sein, und mit etwas Glück würde Evelyn den damaligen Arzt des Mädchens finden.
Sie hielt auf dem Besucherparkplatz und ging zum Verwaltungsgebäude. Einige Schlammlachen und abgeknickte Zweige zeugten noch vom Gewitter der letzten Nacht. Doch der Himmel war klar. Es versprach, ein halbwegs sonniger Tag zu werden.
Sowohl vor dem Haupteingang als auch neben den Seitentrakten standen Polizeifahrzeuge. Verzerrte Stimmen drangen dumpf aus den Funkgeräten der Autos. Einige Uniformierte schritten über das Gelände. Im ersten Moment dachte Evelyn, dass die Beamten wegen ihr oder Smolles Selbstmord hier waren, doch das konnte unmöglich sein. Der Schlafmangel äußerte sich bereits in abstrusen, paranoiden Gedanken. Die Polizisten patrouillierten hier bestimmt wegen einer anderen Sache - möglicherweise war eine Patientin getürmt.
Während Evelyn das Verwaltungsgebäude betrat, verließen zwei Beamte das Haus. Hektik lag in der Luft. Zu viele Personen, die nicht nach Hauspersonal aussahen, eilten durch die Gänge und telefonierten mit ihren Handys. Aber vielleicht wirkte das bloß so auf sie, weil sie selbst innerlich aufgewühlt war und eigentlich nicht genau wusste, was
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