Rachesommer
sie hier wollte - geschweige denn, dass sie jemandem erklären konnte, wonach genau sie suchte.
Der Infoschalter mit der Aufschrift Fachabteilung II - Persönlichkeitsstörungen/Trauma sah vielversprechend aus. Hinter der getönten Plexiglaswand saß eine ältere Dame mit gefärbten pechschwarzen Haaren, einem Mittelscheitel und einer Hornbrille mit flaschendicken Gläsern. Sie telefonierte und kaute gleichzeitig wenig damenhaft an einem Bleistift.
Während Evelyn auf das Ende des Gesprächs wartete, blätterte sie gedankenverloren durch eine Informationsbroschüre.
Die Klinik verfügte über fünfhundert Betten und bestand aus über hundert Stationen, in denen jährlich achttausend Patienten behandelt wurden. Achttausend! Auf einem Plan sah sie, wie weitläufig das Gelände war. Mutlos ließ sie die Schultern sinken. Sie hatte sich das viel einfacher vorgestellt. Hier würde sie wohl keine Auskunft erhalten, und schon gar nicht bei der Hektik, die an diesem Morgen herrschte.
»Hallo! Sie!« Die Frau mit der Hornbrille pochte mit dem Bleistift gegen das Glas.
Evelyn sah auf.
»Sie können den Flyer gern mitnehmen - oder Sie sagen mir, was Sie wollen. Ansonsten …« Die Dame nickte in den Gang.
Evelyn sah sich um. Hinter ihr warteten bereits zwei weitere Frauen. Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, diese Nana-Mouskouri-Kopie um einen Gefallen zu bitten.
Sie versuchte es dennoch. »Vor zehn Jahren wurde hier ein zehnjähriges Mädchen eingeliefert. Ich würde gern mit dem behandelnden Arzt von damals sprechen.«
»Wie hieß der?«
»Das weiß ich leider nicht.«
Evelyn bemerkte, wie der Frau hinter der Glasscheibe die Gesichtszüge einschliefen. »Der Name der Patientin?«, fragte sie langsam.
»Ich kenne leider nur ihren Vornamen, aber …«
»Sie kennen nur den Vornamen?«, wiederholte die Frau in einem süffisanten Ton. »Ich schlage vor, Sie kommen wieder, sobald Sie mehr wissen - die Nächste bitte!«
Evelyn beugte sich tiefer, um direkt durch den Sprechschlitz zu reden. »Sehen Sie, es ist wichtig. Ich bin weit gefahren, um …«
»Das höre ich an Ihrem Akzent. Vielleicht gibt man Ihnen in Österreich nur auf Grund eines Vornamens eine Patientenauskunft, aber hier geht das nicht. Die Nächste bitte!«
Wie konnte man nur so verbohrt sein? Evelyn dachte nicht daran, den Infoschalter zu verlassen. »Dieses Mädchen wurde vor zehn Jahren hier eingeliefert, nachdem sie schwer misshandelt worden war.«
Die Dame hörte nicht länger zu. Sie griff demonstrativ zum Telefonhörer und wählte eine Nebenstelle.
»Sie heißt Lisa, war damals erst zehn und …«
Die Frau wollte gerade etwas in die Sprechmuschel sagen, als sie plötzlich innehielt. Langsam legte sie den Hörer auf die Gabel und fixierte Evelyn. »Sagten Sie Lisa?«
Evelyn war mindestens genauso perplex wie die Frau am Infoschalter. »Ja, so hieß sie.«
»Lisa Gurdijew?«
Evelyn hob die Schultern. »Möglich.«
Die Nana-Mouskouri-Imitation warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, den Evelyn nicht deuten konnte. Gleichzeitig nickte die Frau zu einer Sitzecke an der Wand. »Warten Sie dort drüben.« Dann griff sie zum Hörer.
Während Evelyn auf der Couch saß und lustlos die psychologischen Magazine auf dem Tisch durchblätterte, verging die Zeit so zäh wie im Gerichtssaal, wenn sie auf die Urteilsverkündung wartete. Wen hatte die Frau wohl angerufen? Ständig kamen und gingen neue Besucher, Krankenpfleger oder Patienten mit ihren Betreuern. Hier herrschte mehr Betrieb als in der Ankunftshalle des Wiener Westbahnhofs zur Hauptreisezeit. Als Evelyn bereits dachte, die Dame am Infoschalter hätte sie vergessen, betrat ein Mann mit zerknautschter Hose, dunklem Mantel und Sakko das Gebäude. Die Gesichtszüge des etwa Fünfzigjährigen verrieten ebenso wie sein zerknittertes Hemd, dass er eine mindestens genauso schreckliche Nacht wie sie hinter sich hatte. Aber er sah weder aus wie ein Arzt noch wie ein Pfleger und wirkte schon gar nicht wie ein Besucher. Schnurstracks ging er zum Infoschalter. Als ihn die Nana-Mouskouri-Kopie hinter dem Plexiglas bemerkte, nickte sie nur kurz zu der Sitzecke. Evelyns Herz schlug schneller, als der Mann kommentarlos umschwenkte und auf sie zukam. Im nächsten Moment stand er vor ihr und musterte sie knapp.
»Morgen. Sie interessieren sich für Lisa Gurdijew«, stellte er fest. »Darf ich fragen, aus welchem Grund?«
Sein Gesicht war kantig, das kurz geschorene Haar an den Schläfen bereits
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