Rachesommer
lange und eindringlich an. »Wir machen einen Handel«, schlug er vor. »Sie verraten mir, warum sich eine Wiener Anwältin für Lisa Gurdijew interessiert, und ich erzähle Ihnen, weshalb ich hier bin.«
»Schießen Sie los.«
Pulaski hielt einen Moment inne. »Nein, so funktioniert das nicht.«
»Nein? Der Handel war Ihre Idee, also lasse ich Ihnen den Vortritt.«
»Wir können es auch auf die harte Tour machen und die Sache auf dem Revier besprechen.«
»Auf dem Revier?« Sie wusste, dass er bluffte. »Sehr gerne, im neunten Wiener Gemeindebezirk.« Lächelnd griff sie nach ihrer Handtasche und erhob sich.
»Warten Sie«, seufzte Pulaski. »Eine Anwältin … also gut, ich erzähle Ihnen, was ich über den Fall sagen darf.«
Warum nicht gleich? Sie setzte sich wieder.
Als er die Stimme senkte und sich nach vorne beugte, bemerkte sie den Riemen eines Schulterholsters unter dem Kragenaufschlag.
»Es begann mit dem Selbstmord der zwanzigjährigen Natascha Sommer in der Psychiatrie Markkleeberg …«
In den nächsten Minuten erfuhr Evelyn von den Morden an Natascha Sommer, Martin Horner, Sebastian Semmelschläger und dem Mordversuch an Lesja Prokopowytsch, und dass Pulaski einen grauhaarigen Mann im Anzug jagte, bei dem es sich um den mutmaßlichen Täter handelte.
»Noch kenne ich die Zusammenhänge nicht, aber ich vermute, dass Lisa ebenfalls in Lebensgefahr schwebt«, schloss er seinen Bericht.
Evelyn starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Lisa in Lebensgefahr? Was für ein Schwachsinn! Viel eher war sie ein Todesengel, der sich ein Opfer nach dem anderen auf der Hockinson-Liste vornahm. Was ihr der Leipziger Ermittler erzählt hatte, passte nicht im Geringsten zu ihren eigenen Recherchen.
»Ich fürchte, wir arbeiten an zwei verschiedenen Fällen, die nichts miteinander zu tun haben«, sagte sie schließlich.
»Lassen Sie es uns herausfinden. Warum sind Sie hier?«
Evelyn erwähnte die mysteriösen Unfälle, die ihre Kanzlei bearbeitet hatte, und schilderte, wie der Kinderarzt Rudolf Kieslinger, ihr Kollege Peter Holobeck und Stadtrat Heinz Prange gestorben waren. Danach erzählte sie, dass der deutsche Reeder Edward Hockinson durch einen Seidenschal stranguliert worden war, der sich im hinteren Fahrgestell seines Cabrios verfangen hatte.
Pulaski machte sich keine Notizen. Er hörte mit ausdrucksloser Miene zu, trotzdem verriet sein Gesichtsausdruck, dass er jedes noch so kleine Detail in seinem Hinterkopf abspeicherte.
»All’diese Männer, die nun tot sind, verband eine gemeinsame Vergangenheit«, sagte Evelyn. Erst als sie von der Kreuzfahrt mit der Friedberg erzählte, an der vor zehn Jahren ein Dutzend Männer teilgenommen hatte, von der Erpressung, den Zahlungen auf das anonyme Konto und schließlich Lisas Bruder und die anderen Kinder erwähnte, wurden Pulaskis Augen schmal.
»Und Sie haben tatsächlich herausgefunden, dass Lisa Gurdijew und ihr Bruder Manuel vor zehn Jahren auf diesem Schiff waren?«, unterbrach er sie.
Sie nickte.
»Dann waren es sechs Kinder. Verflucht!«, entfuhr es ihm. Er sprang .auf und lief durch den Raum. »Eine Schiffsreise, verdammt!« Gedankeriverloren zündete er sich eine Zigarette an und begann, in dem Kaffeehaus zu rauchen. »Was hat der Arzt in Bremerhaven erzählt?«, murmelte er zwischen zwei Zügen, als versuchte er sich zu erinnern. »In Frankreich und Griechenland sind ebenfalls Kinder ausgesetzt worden, und immer in Küstennähe. Ein Schiff! Darauf ist wohl nie jemand gekommen.« Er lachte auf. »Die Beamten haben sämtliche Küstendörfer abgesucht, aber nie etwas gefunden. Kein Wunder! Der Kahn war längst über alle Berge.«
»Wovon reden Sie?«
»Hören Sie!«, rief eine Frau hinter dem Tresen. »Hier ist Rauchverbot!«
Pulaski ignorierte sie. Er kam zu Evelyn an den Tisch und senkte die Stimme. »Lisa und die anderen vier Kinder wurden damals mit Drogen vollgepumpt in verschiedenen Küstendörfern an der Nordsee gefunden. Das waren die Kinder jener Kreuzfahrt. Jetzt, zehn Jahre später, werden sie der Reihe nach ermordet. Lisa und Lesja sind die einzigen Überlebenden, die aussagen können, was seinerzeit passiert ist. Aber jemand versucht, das zu verhindern und alle Spuren zu beseitigen. Deshalb habe ich Lisa unter Polizeischutz gestellt.«
»Unter Polizeischutz?«, echote Evelyn. In ihrem Kopf drehte sich im Moment alles. »Sie irren sich. Hier geht es um etwas völlig anderes. Lisa ist eine Mörderin.«
»Hier ist Rauchverbot!«,
Weitere Kostenlose Bücher