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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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brüllte eine Stimme.
    Die anderen Gäste blickten mittierweile nicht mehr aus dem Fenster, sondern glotzten zu Evelyn und Pulaski herüber.
    »Sie irren sich!«, beharrte Pulaski. »Lisa ist keine Mörderin. Im Gegenteil. Hätten wir sie nicht rechtzeitig unter Polizeischutz gestellt, wäre sie womöglich Opfer Nummer fünf geworden.«
    »Hallo, Sie!«, rief eine Dame.
    »Ja, schon gut!« Pulaski zerdrückte die Zigarette auf seiner Kaffeeuntertasse. Er stand immer noch vor Evelyn und beugte sich zu ihr herunter. »Wir haben versucht, Lisa zu befragen«, flüsterte er. »Aber im Moment ist nichts aus ihr herauszubekommen.«
    »Sie ist hier?«, fragte Evelyn. »Und Sie haben mit ihr geredet?«
    Pulaski nickte, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Evelyns Herzschlag schien für einen Moment auszusetzen. Aber wenn sie hier war …?
    Der Mann wusste nicht, was er tat. »Sie haben keine Ahnung, wie gefährlich diese Frau ist.« Evelyn sah sich um. Die Kaffeehausgäste starrten immer noch zu ihnen herüber. Ihre Diskussion schien eine willkommene Abwechslung im grauen Alltag der Anstalt zu sein.
    Eilig kramte Evelyn das Foto von der Kamera des Geldautomaten hervor und legte es auf den Tisch. »Ist sie das?«
    »Woher haben Sie das Foto?«
    »Ist sie das?«, wiederholte Evelyn. Pulaski nickte.
    »Und das?« Evelyn faltete die Phantomzeichnung auseinander.
    »Ja! Woher zum Teufel haben Sie diese Bilder?«
    Das Mädchen hieß also tatsächlich Lisa Gurdijew. In diesem Moment hatte Evelyn das Gefühl, als suchte sie diese Frau im Spaghettiträgerkleid seit einer Ewigkeit.
    Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. »Das Foto wurde vor knapp drei Wochen in der Wiener Innenstadt aufgenommen, und die Zeichnung entstand vor wenigen Tagen nach den Angaben einer Boutiquebesitzerin in Cuxhaven.«
    Pulaski nahm die Blätter in die Hand. »Das ist unmöglich.«
    »Ist es nicht«, widersprach Evelyn. »Diese Frau ist eine raffinierte Mörderin. Sie wurde an den Orten gesehen, wo Kieslinger, Prange und Hockinson starben.«
    »So raffiniert kann sie dann nicht gewesen sein.« Pulaski zerrte an seinem Krawattenknoten. »Kommen Sie, wir gehen.« Er marschierte zur Tür.
    Evelyn folgte ihm.
    »Und was ist mit zahlen?«, rief ihnen eine Dame hinterher. »Ja, ja!« Pulaski legte einen Geldschein auf den Tisch und drängte Evelyn ins Freie. Kaum waren sie draußen, griff er nach seinem Asthmaspray und inhalierte. Dabei umklammerte er die Papiere, sodass seine Knöchel weiß hervortraten.
    »Sie müssen Lisa festnehmen lassen«, beharrte Evelyn.
    »Sie irren sich«, presste er hervor. »Diese Frau ist seit zehn Jahren Bewohnerin der geschlossenen psychiatrischen Abteilung und hat die Klinik während dieser Zeit kein einziges Mal verlassen.«
     
    54
     
    Lisa war auf Station 46 untergebracht, einem gemischtgeschlechtlichen Trakt für junge Erwachsene zwischen achtzehn und dreißig Jahren, der als Schnittstelle zwischen der Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie konzipiert worden war. Pulaski kannte den Weg dorthin, weil er - wie er Evelyn erklärte - eben von dort gekommen war, als ihn der Anruf vom Infoschalter erreicht hatte.
    Vor dem Gebäude standen zwei Beamte in Zivil. Evelyn erkannte sie an den derben Gesichtern, die nicht zu dieser Klinik passten, und den in Brusthöhe ausgebeulten Mänteln. Es wirkte so offensichtlich wie in einem Film. Nachher durfte sich niemand wundern, wenn in der Klinik die Gerüchteküche brodelte.
    Während Evelyn dem Kripobeamten ins Haus folgte, warf sie einen Blick auf die Wandtafel mit dem Grundriss, auf der die Fluchtwege eingezeichnet waren. Das Gebäude bestand aus etwa zwanzig Ein- und Zweibettzimmern, mehreren Therapie- und Aufenthaltsräumen und einem eigenen Bereich für Psychologen und Sozialpädagogen.
    Als sie in das obere Stockwerk gingen, kam ihnen eine ältere Dame im weißen Kittel mit einem grauen Haarknoten entgegen. Die Lesebrille baumelte an einem Kettchen vor ihrem Busen.
    »Das ist die Oberärztin«, raunte Pulaski Evelyn zu.
    »Kein gutes Zeichen, oder?«
    »Werden Sie gleich merken.«
    Die Ärztin baute sich vor Pulaski auf. »Sie schon wieder. Und ich dachte, mein Tag beginnt erst jetzt, weil ich Sie losgeworden bin.«
    Evelyn merkte, wie Pulaski etwas auf der Zunge lag, das er aber runterschluckte. Stattdessen gab er sich wie ein zahmer Wolf, der allerdings jederzeit zuschnappen konnte. »Mir ist noch etwas eingefallen, worüber ich mit Lisa sprechen möchte.«
    Offensichtlich

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