Rachesommer
gab es an dieser grauen Eminenz kein anderes Vorbeikommen, als eine freundliche Miene aufzusetzen.
»Wen haben Sie diesmal dabei?« Die Ärztin musterte Evelyn schamlos von oben bis unten.
Falls es ein Vorurteil gab, das Psychiater als introvertierte Zwangsneurotiker bezeichnete, die selbst einen Seelenklempner benötigten, traf es auf diese Person nicht zu. Evelyn kannte diese Art Frau. Ihr Blick war eiskalt und berechnend, und sie würde keine Sekunde um den heißen Brei herumreden.
Das Namensschild an ihrer Brust wies sie als Frau Dr. Melanie Gessler aus, und wie es schien, hatte sie an Pulaski keinen Narren gefressen.
»Evelyn Meyers«, stellte sie sich vor und reichte der Oberärztin die Hand. Doch diese erwiderte die Geste nicht. Stattdessen ballte sie die knöchernen Finger zur Faust und stemmte sie in die Hüffe.
Pulaski warf Evelyn einen kurzen Blick zu. Haben Sie etwas anderes von diesem Drachen erwartet?
»Frau Meyers ist eine Kollegin«, sagte er zu Gessler. »Wir arbeiten gemeinsam an diesem Fall.«
Kollegin? Evelyns Herz rutschte ihr in die Hose. Was redete der Mann da? Sobald sie den Mund aufmachte, wusste jeder, dass sie von Kripoarbeit so wenig Ahnung hatte wie ein Gebrauchtwagenhändler vom Konsumentenschutz.
Doktor Gesslers Gesichtszüge versteinerten zusehends, obwohl das eigentlich kaum noch vorstellbar war. »Der ermittelnde Beamte von der Hamburger Kripo sagte mir, dass Sie nur als Berater vor Ort tätig seien und ich ihn über jeden Ihrer Schritte informieren soll.«
»Tun Sie das«, antwortete Pulaski. »Aber in der Zwischenzeit müssen wir noch einmal mit Lisa sprechen.«
»Sie hatten Ihre fünf Minuten bereits - mehr kann ich Ihnen aus medizinischer Sicht nicht zugestehen. Außerdem haben Sie selbst gesehen, dass die Patientin im Moment nicht ansprechbar ist.«
»Wir haben soeben neue Informationen erhalten, die mehr Licht auf Lisas Vergangenheit werfen.«
Doktor Gessler stöhnte auf. »Oh, Gott, für Sie ist alles so einfach.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wir arbeiten seit zehn Jahren daran, aber Sie kommen hierher und glauben, binnen Sekunden alles auf den Kopf stellen zu können. Mir scheint, Sie verwechseln unsere Patienten mit Ihren Verbrechern.«
»Fünf Minuten«, bat Pulaski. »Womöglich hängen Menschenleben von diesem Gespräch ab.«
»Womöglich?«, echote die Ärztin. »Das einzige Leben, um das ich mich sorge, ist das von Lisa. Sie hat heute bereits genug mitgemacht. Es tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf.
Evelyn merkte, wie Pulaskis Kiefer zu mahlen begannen. Sie selbst hätte schon längst die Nerven verloren und wäre an der Frau vorbeimarschiert, doch Pulaski ballte nur die Faust hinter dem Rücken.
Die Ärztin wollte sich bereits an ihm vorbeidrängen, doch Pulaski wich nicht zur Seite. Stattdessen hielt er Doktor Gessler die Aufnahme der Geldautomatenkamera vor die Nase.
»Erkennen Sie Lisa wieder?«, fragte er. »Dieses Foto wurde vor knapp drei Wochen in der Wiener Innenstadt gemacht.«
Doktor Gessler betrachtete das Bild mit kritischem Blick. »Eine zufällige Ähnlichkeit.«
»Diese Person ist Lisa Gurdijew«, widersprach Pulaski. »Wir konnten etwas über ihre Vergangenheit herausfinden und haben ihre Spur von Wien nach Cuxhaven verfolgt.«
Evelyn stockte der Atem. Der Ermittler begab sich auf dünnes Eis. Mittlerweile war sie selbst nicht mehr so sicher, ob die Frau auf dem Foto und die Patientin in der Klinik dieselbe Person waren.
Doktor Gessler gab Pulaski das Foto zurück. »Wien? Cuxhaven? Das ist unmöglich.«
Während Pulaski schwieg, griff Evelyn in das Gespräch ein. »Lisa muss einen Weg gefunden haben, die Anstalt für ein paar Tage zu verlassen.« Sie wandte sich an Pulaski. »Sie ist dahintergekommen, wer damals an Bord war, um in ihren Freigängen …«
»Es gab niemals Freigänge!«, unterbrach Gessler sie. »Ich verbürge mich für sämtliche Psychiater, Therapeuten und Krankenpfleger, die je mit Lisa zusammengearbeitet haben. Sie hat die Anstalt in den letzten zehn Jahren nur ein paar Mal verlassen - und stets unter Aufsicht.«
Pulaski wedelte mit der Aufnahme, als strafte dieses Foto ihre Aussagen Lügen. »Dann haben Sie eine erhebliche Sicherheitslücke in Ihrer Abteilung.« Er ließ die Feststellung wie eine Drohung im Raum stehen.
Für einen Augenblick verwandelte sich Gesslers Gesicht in eine Kaltwetterfront. »Spielen Sie etwa auf den vor kurzem entflohenen Psychiatrie-Patienten an? Das war im
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