Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
überprüfen.
Die Direktorin Pia Tandrup war ebenfalls freundlich, aber sie hatte es sehr eilig und fragte Dicte, ob es für sie in Ordnung sei, wenn sie im Archiv eingeschlossen werden würde. Sie könne jederzeit anrufen, wenn sie Hilfe benötige.
»Aber natürlich, kein Problem, vielen Dank.«
Sie setzte sich mit dem Stapel an einen Tisch am Fenster, mit Blick auf den Schulhof, der verlassen und trist aussah. Ihr Sohn war 1978 zur Welt gekommen. Also konnte sie davon ausgehen, dass er als Sechs- oder Siebenjähriger eingeschult worden war, im Jahr 1985. Sie blätterte durch die Listen, fand die entsprechende und überflog die Namen, bis sie auf einen erstenHinweis stieß: Laila Bak. In Lailas Klasse gab es keinen Peter, also versuchte sie es in der Parallelklasse 1 B. Bingo! Peter A. Boutrup stand da. Fieberhaft durchsuchte sie den Stapel mit den Klassenfotos, während sich in ihrem Kopf die Fragen türmten. Wie hatte er als kleiner Junge ausgesehen? Wem ähnelte er? Wie war er als Siebenjähriger?
Mølleskole, 1B, 1985 stand auf dem Foto, das die ganze Klasse auf dem Schulhof aufgestellt zeigte. In der ersten Reihe hockten die Kinder, die Mädchen mit breitem Lächeln und schönen Frisuren, die Jungen sahen aus, als würden sie lieber auf dem Bolzplatz sein, als dort stillzustehen. Sie fand ihn in der letzten Reihe, ganz links am Rand. Ihre Handflächen wurden feucht. Er blickte direkt in die Kamera, aber dennoch sah es so aus, als würde er durch den Betrachter hindurchsehen. Er war unverkennbar und doch auch wieder nicht. Ein Junge mit blondem, fast weißem Haar und einem viereckigen, blassen Gesicht. In seinen Augen waren Ablehnung und Distanz zu lesen.
Lange saß sie so und betrachtete ihn. Was war in seinem Kopf damals nur vor sich gegangen?
Endlich konnte sie den Blick lösen, um auch die anderen Klassenkameraden genauer zu studieren, einen nach dem anderen. Am Ende blieb ihr Blick an einem aufgeschossenen Jungen hängen, der neben ihrem Sohn stand und ihm nonchalant den Ellenbogen auf die Schulter gelegt hatte. Ein langes, schmales Gesicht, schmale Schultern, dunkle Augen. Sein Name stand unter der Aufnahme: Cato Nielsen. Irgendwie kam er ihr bekannt vor.
KAPITEL 45
Das war ungefähr der letzte Ort auf der Welt, den er wiedersehen wollte. Nein, wenn er es ganz genau nehmen würde, müsste er sagen: der vorletzte Ort.
Miriams kleine Blechkiste war nicht besonders geeignet fürdie Fahrt an die Küste. Immer wieder hatte er die Befürchtung, vom Wind über die Felder geweht zu werden oder dass der Wagen beim geringsten Kontakt mit einem Schlagloch auseinanderbrach. Ab und zu trommelte ein Regenguss wilde Rhythmen auf das Autodach, und manchmal fühlte es sich an, als würde eine Salve aus dem Schrotgewehr auf ihn niedergehen.
Er kam nur langsam voran.
Damals hatte er alles über Vögel gewusst. Über den Zug der Tauben im April, über Mäusebussarde, Sperber, Wespenbussarde, Rohrweihen, Kornweihen, Merline. Sogar den Fischadler hatte er beobachten können, wie er über das große blaue Meer geschwebt war, während Thor neben ihm gestanden und aufgeregt gesabbert hatte. Er war mit dem Hund spazieren gegangen, durch den Buchenwald in Nederskov und dem Nadelwald in Overskov. Er kannte den Platz bei den Äckern, nordöstlich der Gemeinde, von wo aus man mit Güllegeruch in der Nase den Leuchtturm sehen konnte. Und er hatte in den frühen Morgenstunden Hirsche beobachtet, wie sie in den Ort gezogen waren und alles Essbare auf ihrem Weg verschlungen hatten.
Doch von einem Tag auf den nächsten war es zum verbotenen Land für ihn geworden. Er hatte den Schlüssel im Schloss umgedreht und ihn unter den weißen Stein gelegt. Er hatte alle Rechnungen beglichen. Freunde wussten, dass sie dort jederzeit unterkommen konnten, wenn sie Lust hatten. Sie sollten nur ein bisschen Bares in die Schublade in der Küche legen oder ihm etwas aufs Konto überweisen. Dieses Konto hatte er an seinem ersten Tag in Freiheit sofort aufgelöst.
Eine Zeitlang hatte er das Häuschen an Kumpel vermietet, die gerade aus dem Knast kamen. Einige hatten den Ort geliebt, andere hatten unter Agoraphobie gelitten, wegen der Weite, der vielen Natur und des offenen Meers. So hatte er das Anwesen halten können, ohne jemals zurückzublicken. Er hatte es hinter sich gelassen; hatte sich oft überlegt, es endlich zu verkaufen. Das Geld hatte er mehr als nötig, aber plötzlich warendie Zeiten schlecht dafür, und die Frage drängte sich
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