Rachmann, Tom
mir nichts sagen wollen, ist mir das auch egal. Ich habe
kein Interesse mehr.«
»Halt mal. Warten Sie«, sagt
sie. »Was ist eigentlich genau passiert? Meine Nichte sagt, Sie mussten aus persönlichen
Gründern weg. Was heißt das?« Sie holt Luft aus der Sauerstoffmaske.
»Ich habe nicht die Absicht,
darüber zu sprechen.«
»Sie müssen mir doch
irgendeine Erklärung geben. Ich weiß nämlich nicht, ob ich mich noch einmal vor
Ihnen entblößen möchte. Womöglich gehen Sie wieder aufs Klo und kommen nicht
zurück.«
»Ich rede über dieses Thema
nicht.«
»Setzen Sie sich hin.«
Er setzt sich.
»Wenn Sie mir schon nichts
Interessantes über sich erzählen wollen«, sagt sie, »dann erzählen Sie mir
wenigstens etwas über Ihren Vater. Den berühmten R. P. Gopal. Das war ein
interessanter Mann, oder?«
»Ja, war er.«
»Und?«
»Was soll ich sagen? Alle Welt
hat ihn als sehr charismatisch in Erinnerung.«
»Das weiß ich. Erzählen Sie
lieber was, woran Sie sich selbst erinnern.«
»Ich erinnere mich, dass meine
Mutter ihn immer angezogen hat - nicht ihm die Sachen hingelegt, ich meine,
buchstäblich angezogen. Ich habe erst als Teenager begriffen, dass das nicht
normal oder üblich ist. Was soll ich noch erzählen? Er sah gut aus, das wissen
Sie ja. Als ich jünger war, hat mich immer genervt, dass alle Mädchen, mit
denen ich ging, so begeistert von unseren Familienfotos waren. Mein Vater war
immer viel toller als ich. Was noch? Seine Kriegssachen, natürlich, aus Indien.
Und ich erinnere mich noch, wie er Gedichte verfasst hat: Dabei saß er immer in
meiner alten Wiege. Er hat behauptet, da drin sei es so gemütlich. Sonst
erinnere ich mich an nicht mehr viel. Außer, dass er gern getrunken hat. Bis er
daran gestorben ist, natürlich.«
»Und Sie schreiben nur Nachrufe?
Wie fand Ihr Vater das denn?«
»Ich glaube, es war ihm egal.
Er hatte mir meinen ersten Job besorgt, in der Fleet Street. Danach war ihm
das offenbar alles völlig wurscht. Aber mich hat nie das Reporterfieber
gepackt. Ich wollte einfach einen bequemen Sessel. Bin kein Ehrgeizling.«
»Soll heißen, Sie sind eine
ziemliche Niete.«
»Sehr freundlich, danke.«
»Jedenfalls verglichen mit R.
P. Gopal.«
»Ja, das stimmt, mit ihm kann
ich mich nicht vergleichen. Er hat mir seinen brillanten Kopf leider nicht
hinterlassen, der Drecksack.« Er sieht sie an. »Aber da Sie ja ziemlich
verletzend mit mir umgehen, haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich offen
rede. Möglicherweise ist mir das auch egal. Sie und Ihr Schreiben sind nämlich
wirklich zwei Paar Schuhe. Als ich vor unserer ersten Begegnung Ihre Memoiren
las, da war ich aufgeregt wegen des Interviews. Als Person dagegen sind Sie
längst nicht so bewunderungswürdig.«
»Allmählich gefällt mir das
Gespräch. Steht das dann alles in Ihrem Nachruf?« Sie hustet unter Schmerzen
und geht keuchend unter die Sauerstoffmaske. Sie krächzt jetzt nur noch. »Das
Zimmer hier ist ruhig. Zum Glück habe ich es für mich allein. Meine Nichte
kommt jeden Tag zu Besuch. Tagtäglich. Habe ich Ihnen von ihr erzählt?«
»Ja. Sie haben sich über sie
beschwert. Dass sie Sie mit heißen Suppen und kalter Fürsorge quält.«
»Nein, nein, nein«, antwortet
sie, »beschwert habe ich mich nie über sie. Das haben Sie falsch in Erinnerung.
Ich bete meine Nichte an. Sie ist ein wunderbarer Mensch. Gerasim - den
Spitznamen habe ich ihr gegeben. Eigentlich heißt sie Julia. Sie ist ein
Engel. Ich hänge an ihr. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gut sie zu
mir war, die ganzen letzten Monate.« Sie hustet wieder. »Mir fehlen die Worte.
Bald ist meine Stimme weg. Ich sage jetzt nichts mehr. Obwohl ich gar nichts
gesagt habe. Nichts Brauchbares.« Sie kramt einen Block hervor und schreibt:
»Mit dem Ding hier soll ich kommunizieren.« Sie setzt sich bereit, aber er
fragt sie nichts.
Zu hören sind nur die Geräusche
der medizinischen Apparaturen und ihr Atemrasseln.
Bis Arthur etwas sagt. »Hier
kommt etwas Interessantes. Ich erzähle Ihnen jetzt doch etwas. Spielt
eigentlich keine Rolle, aber ... Das, was da passiert ist.« Er hält inne.
Sie nickt und schreibt auf den
Block: »Ich weiß. Ein Unfall. Ihre Tochter.«
»Ja. Meine Tochter. Es war ein
Unfall.«
Sie schreibt: »Es ist jetzt
vorbei.«
»Ich kann nicht darüber
reden.« Er steckt Rekorder und Stifte in die Tasche.
Sie zieht sich die Maske ab.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Letzten Endes hatte ich Ihnen nichts zu
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