Rachmann, Tom
ersprießlich, Rammbock für jemand anderen zu sein. Aber
zum Glück war schon vor ihm ein jüdisches Kind auf die Schule gekommen, Jimmy
Pepp, und der genoss einen geradezu legendären Ruf, weil er aufs Dach der
Kirchenbibliothek geklettert war und da oben eine Pfeife geraucht hatte. Es
hieß, für den Rückweg habe er die Regenrohre genommen und dabei die ganze Zeit
die Pfeife am Glimmen gehalten. Obwohl es sehr windig war. Es klang zwar alles
etwas dubios, aber fest stand, dass Jimmy als Jugendlicher eine Pfeife gehabt
hatte, ein geschwungenes Wunderwerk mit Meerschaumkopf und Mahagonischaft. Er
paffte sie gern auf dem Hügel hinter der Schule, über ein Buch gebeugt - E. E. Cummings
zum Beispiel oder Baudelaire. Außerdem war Jimmy berühmt als einziger Schüler,
der den Schulblazer nicht zu tragen brauchte. Dem entging er mittels eines
gefälschten ärztlichen Attests, das ihm eine »seborrhoische Dermatitis«
bescheinigte. Kein Lehrer wagte je nachzufragen, was für eine Art Leiden das
sein sollte, und das war ein Glück, denn Jimmy hätte selbst raten müssen. Er
hatte es nur erfunden, weil er einfach lieber Tweedjackets nach Professorenart
trug, mit Lederflicken auf den Ellbogen, in der linken Tasche stets den
>Ulysses< von James Joyce - die Taschenbuchausgabe, ohne Schutzumschlag
-, in der rechten seine Kalebassenpfeife und eine Dose Mac Baren Club Blend.
Die linke und die rechte Tasche hingen natürlich, da der >Ulysses<
bekanntlich recht umfänglich ist, unterschiedlich durch, also stellte Jimmy das
Gleichgewicht mit Füllfederhaltern wieder her, die allerdings oft kaputtgingen
und ihr Tintenblut als indigoblaues Fleckenmuster über die rechte Tasche
verteilten. Aus irgendeinem Grund, den sich Herman nie erklären konnte, war
Jimmy vom ersten Tag in dieser Schule an sein Beschützer.
Jetzt steigt er als einer der
Letzten aus dem Nachmittagsflieger aus Frankfurt.
»Willkommen.« Herman strahlt
Jimmy an und will seine Tasche greifen. Dann überlegt er es sich anders und
legt seinem schmächtigen Freund erst mal seinen dicken Arm um. »Endlich bist du
mal gekommen.«
Er geht vor zum Auto. »Weil
ich ja nicht wusste, wie dein Biorhythmus so eingestellt ist«, sagt er auf der
Fahrt nach Hause, »habe ich vier Alternativen fürs Abendessen anzubieten.
Rühreier mit Trüffelöl - sehr gut, kann ich empfehlen. Oder selbst gemachte
Pizza. Oder frische Bresaola, Salat und Käse - ich habe einen fantastischen Taleggio.
Und dann gibt's noch einen Rest Acquacotta di Talamone, das ist eine Suppe. Wir
können aber auch irgendwo essen gehen. Waren das vier?«
Jimmy lächelt.
»Was denn?« Herman grinst
zurück. »Ist doch mein Job, dich ein bisschen zu mästen, oder? Entschuldige,
ich muss hier mal aufpassen - sonst rassele ich noch irgendjemandem rein.« Eine
Minute lang fährt er schweigend weiter. Dann sagt er: »Schön, dich zu sehen.«
Jimmy kommt aus Los Angeles
und hat mit dem Zwischenstopp fast vierundzwanzig Stunden Flug hinter sich. Er
hält sich wach, so lange er kann, aber irgendwann fällt er im Gästezimmer in
einen kurzen Schlaf. Im Morgengrauen tappt er, in Boxershorts mit
Kussmund-Design, im Wohnzimmer herum. Die Haare auf seiner Brust sind weiß.
Herman kommt im Schlafanzug dazu und knetet an einem Knoten in seinem Rücken
herum. »Willst du Kaffee?«, fragt er und reicht Jimmy die Morgenzeitung. Beim
Frühstück reden sie über Politik - wer Amerika regiert, wer Italien regiert.
Dann muss Herman zur Arbeit. »Du kommst gerade an, und ich lasse dich schon
wieder allein - sehr gastfreundlich«, sagt er. »Hast du alles, was du brauchst?
Willst du an den Computer? Er ist zwar uralt, aber Internetanschluss hat er
schon. Und ich habe unsere Techniker dazu gekriegt, mir ein Schreibprogramm zu
installieren, du kannst also an deinem Buch arbeiten, solange du hier bist.
Komm, ich kann dich schnell einloggen.«
Mit der zerknitterten Zeitung
unterm Arm schreitet Herman in den Newsroom und wirft vorwurfsvolle Blicke in
die Runde. Ein paar Reporter murmeln »Morgen«, Redakteure beißen sich auf die
Lippen und nicken den Boden an. Herman geht ellbogenschwenkend in sein Büro,
wirft eines seiner klebrigen Bonbons ein, faltet die heutige Ausgäbe
auseinander und zückt den gelben Textmarker, um jedwede Sünde sofort lassoartig
einzukreisen. An einer Ecke des Schreibtischs stapeln sich ungeöffnete Leserbriefe.
Leser scheinen sich manchmal überhaupt nur zu beschweren. Meistens sind es die
älteren
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