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Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Unperfekten
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Jahrgänge - Herman erkennt das an den zittrigen Krickeln und dem
Schreibstil (»Sehr geehrte Herren, ich nehme zwar an, dass Sie eine Fülle von
Briefen bekommen, kann aber nicht umhin, Ihnen meine Bestürzung über ...«).
Zwar hat die Zeitung heutzutage nur noch etwa 10000 Leser, aber immerhin sind
das passionierte Zeitungsleser. Und die Briefmarken auf den Luftpostumschlägen
kommen aus aller Welt, auch ein gutes Zeichen. Für viele Leute, vor allem in
abgelegenen Gegenden, ist die Zeitung die einzige Verbindung zur großen Welt,
zu den Großstädten, aus denen sie weggezogen sind, oder den Großstädten, die
sie nie gesehen, sondern nur im Kopf konstruiert haben. Leser bilden eine Art
Gemeinde, sie kommen zwar nirgends zusammen, aber sie werden zusammengehalten
von geliebten und verhassten Autorennamen, von vermasselten
Bildunterschriften, vom ruhmreichen Kasten mit den Berichtigungen. Ach,
apropos.
    Er sieht Hardy Benjamin am
anderen Ende des Newsrooms tratschen - er hat die Berichtigung in Sachen Sadism
Hussein noch nicht fertig. Er bellt aus dem Türrahmen: »Miss Benjamin, ich
brauche Sie später mal.«
    »Stimmt was nicht?«
    »Ja, aber ich habe jetzt keine
Zeit dafür.«
    »Was Ernstes?«
    »Mit etwas Ernstem bin ich
jetzt gerade beschäftigt. Sie müssen sich leider gedulden, Nancy Drew.« Er
drückt die Tür zu und ärgert sich über sich selbst. Wenn Jimmy sehen würde, wie
ich hier die Leute schikaniere, denkt er und reißt irgendein Buch aus dem
Regal. Es ist das >International Dictionary of Gastronomy<. Er blättert
hastig darin herum. Bei churros bleibt er hängen. Die erste Wohnung, die er mit Jimmy
geteilt hatte, lag am Riverside Drive Höhe 103rd Street, oben in Manhattan.
Herman war das erste Jahr an der Columbia University, Jimmy gerade zurück von
drei Monaten in Mexiko, wo er eine Romanze mit einer älteren Frau gehabt hatte,
einer Künstlerin, die Skulpturen von aztekischen Monstern schuf und deren Gatte
von Houston aus einen Bengel angeheuert hatte, damit der Jimmy einen
Ziegelstein auf den Kopf haute, der Bengel hatte den Stein zwar irgendwie
geworfen, aber nicht getroffen. Jimmy behauptete, er sei deshalb nach Amerika
zurückgekommen. Aber Herman vermutete noch einen anderen Grund und hatte ein
schlechtes Gewissen deshalb: Jimmy hatte bestimmt aus Hermans Briefen herausgespürt,
wie verzagt er war, so ganz allein in New York an der Uni. Es gab in seiner
Atelierwohnung nur ein Bett, und so schlief Jimmy auf dem Boden, ohne Kissen
und Bettzeug, behauptete aber, er finde das besser so. Es dauerte keine Woche,
und Jimmy besaß eine ganze Entourage skurriler Freunde, und Hermans Wohnung
hatte sich von einer Mönchszelle in einen quirligen Salon verwandelt,
frequentiert von sämtlichen schrägen Vögeln der Großstadt. Dyer gehörte dazu,
der Kellner mit dem Babygesicht aus New Orleans, den jedermann liebenswert
fand, bis er jedermann beklaute und ein Polizeipferd biss; Lorraine, die
Bohnenstange, die Marihuana-Zigaretten rauchte und gern die Brieftasche zückte
und Zeichnungen herumzeigte, erotische Selbstporträts mit Spinnen; Nedra mit
den dunklen Augen ohne Verstand, die erzählte, sie sei in Siam oder Brooklyn
geboren, die nach Unterarmschweiß roch, die jeder Spritti von der Straße haben
konnte und die die meisten auch gehabt hatten, nur Jimmy nicht, der sie auf dem
Boden neben sich schlafen ließ und niemals anfasste. Herman fragte Jimmy, was
er gemacht hatte, als ihm der Bengel in Mexiko den Ziegelstein an den Kopf
geschmissen, aber nicht getroffen hatte. Jimmy erzählte, er und der
Möchtegern-Mörder seien gemeinsam in Gelächter ausgebrochen. Und dann, sagte
Jimmy, habe er dem Bengel churros spendiert.
    Er klappt das >International
Dictionary of Gastronomy< zu und stellt es zurück in seine Lücke im Regal. Er
blättert weiter durch die Zeitung bis zu den Kulturseiten. Die sind unter
Arthur Gopal entschieden besser geworden. Herman entdeckt trotzdem einen
Übeltäter: das Wort »buchstäblich«. Knurrend schaltet er den Computer an und
tippt:
     
    buchstäblich: Dieses
Wort gehört komplett gelöscht. Allzu oft sind Dinge, die als »buchstäblich«
beschrieben werden, überhaupt nicht passiert. Zum Beispiel: »Erfuhr buchstäblich
aus der Haut.« Nein, das tat er nicht. Für den Fall, dass das irgendjemandem doch
gelungen sein sollte, empfehle ich, damit ganz groß rauszukommen, und schlage
es als Aufmacher für die Titelseite vor. Wer irgendwo mal eben »buchstäblich«
einfügt,

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