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Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Unperfekten
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vielleicht noch etwas rein für die Meinungsseite.
Das verpflichtet ihn zu nichts, sichert ihm aber die Option. Muss er das Stück
denn bringen? Er könnte Jimmy sagen, der Text ist gut, muss aber noch mehr auf
den Punkt kommen. Andererseits, ganz ehrlich, ist daran überhaupt irgendwas zu
retten? Es ist ja nicht Hermans Zeitung, die er nach Belieben füllen kann. Es
ist doch kein Verrat, wenn er das Stück kippt, oder? Was ist denn mit
Vertrauenswürdigkeit? »Vertrauenswürdigkeit«, murmelt er, und heute klingt das
Wort wabbelig, verlogen.
    Er beschließt, den Artikel zu
bringen. Die Macht hat er. Und er will es. Er kommt in eine der beiden
Ausgaben, zwei Halbspalten breit, groß aufgeblasener Titel, Zitateinblocker zum
Platzschinden, irgendwo auf den Innenseiten. Und morgen früh wird er Jimmy nur
den Zeitungsausschnitt zeigen, Jimmy wird sich bedanken, und er wird seinem
schmächtigen Freund seinen dicken Arm umlegen und sagen: »Nach all den Jahren
müssen wir aber endlich zusammenarbeiten.«
    Er steckt den USB-Stick in den
Computer und macht Jimmys Dokument auf. Der Text von gestern Nacht ist weg. Es
steht nur noch eine Mitteilung da: »Mach dir keinen Kopf, Junge. Ich hab das
Ding gelöscht. Weißt du eigentlich, dass heute mein letzter Abend in Rom ist?
Ich will mit dir essen gehen, und ich bezahle auch. Keine Widerworte. Jimmy«
    Kathleen will wissen, was aus
dem Meinungsstück geworden ist, und Herman sagt, es sei falscher Alarm gewesen.
Sie zeigt auf einen Titel auf Seite sieben - »Globale Erwärmung gut für
Eiscreme« - und fragt, ob er den nicht in seiner nächsten WARUM ?-Ausgabe
kommentieren will. »Ich finde ihn idiotisch, in vielerlei Hinsicht«, erklärt
sie. »Nein, ja, völlig richtig«, sagt er, ohne richtig zuzuhören.
     
    Jimmy hat eine Touristenfalle
in Vatikannähe für das letzte gemeinsame Abendessen ausgesucht. Herman hätte
die Wahl lieber selbst übernommen - er sieht schon an der eingedellten
Speisekarte draußen, dass das hier kein anständiges Restaurant ist. Natürlich
ist das Essen nicht das Entscheidende, er ist einfach nervös: Morgen fährt sein
Freund weg, aber zustande gekommen ist bis jetzt nichts. Beim Essen trinkt
Jimmy drei Gläser Wein, so viel wie nie seit seinem Infarkt. Und sobald der
Alkohol wirkt, schwadroniert er auch wieder bezaubernd, ganz wie in den alten
Tagen seiner legendären angeschickerten Philosophierereien, als er Yeats und
Jewtuschenko auswendig deklamiert, Vorträge über Joyce gehalten und das Wort rmnp (Bürzel) zum komischsten Wort
der englischen Sprache proklamiert hatte. Herman denkt bei Jimmys trunkenem
Geplapper sofort an ihre glücklichste Zeit.
    Von Jimmys Artikel ist lange
nicht die Rede. Aber der Abend verläuft so gut, dass Herman irgendwann sagt:
»Die ganze Sache könnte doch ein Antrieb sein, findest du nicht? Ein kleiner
Gedächtnisschubs, weißt du. Endlich wirklich was zu schreiben.«
    Jimmy setzt sich aufrecht und
räuspert sich. »Herman«, sagt er ruhig, »ich schreibe überhaupt nicht. Ich habe
bisher nicht geschrieben, und ich werde auch nicht schreiben. Ich hatte es nie
wirklich vor. Ich wusste das seit - bestimmt seit meinem zwanzigsten
Lebensjahr. Du warst derjenige, der immer davon geredet hat.«
    »Ich habe doch nicht immer
davon geredet«, sagt Herman verdattert. »Es ist nur, ich fand nur - ich finde
-, du bist fähig zu etwas ganz Großem. Etwas Herausragendem. Du hattest immer
so viel Talent.«
    Jimmy zieht seinen Freund
liebevoll am Ohrläppchen. »Es gibt kein Talent, Junge.«
    Herman zuckt zurück. »Ich
meine es ernst.«
    »Ich auch. Ich hätte dir schon
vor vierzig Jahren klar sagen müssen, dass du dir ein falsches Bild von mir
machst. Aber ich bin eitel. Wahrscheinlich wollte ich einfach Eindruck auf
dich machen. Nur bin ich inzwischen zu alt dafür. Also hör bitte auf, mir zu
erzählen, was ich tun soll. Das macht mir nur überdeutlich, was ich alles nicht
getan habe. Ich habe kein schlechtes Leben gelebt, ein Durchschnittsleben. Und
das ist in Ordnung so.«
    »Durchschnittlich war das
kaum.«
    »Nein? Und wo ist der Beweis
für das Gegenteil? Mein Beweis sind fünfundsechzig Lebensjahre.«
    Herman will widersprechen,
aber Jimmy lässt ihn nicht zu Wort kommen. »Weißt du, was mir gefallen hat an
dem Artikel, den du mir abgerungen hast? Mit dir zu arbeiten, das hat mir
gefallen, Herman - das hat mir Spaß gemacht. Mitzuerleben, wie du den gedruckt
kriegen willst. Du kennst dich wirklich aus in der

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