Rachmann, Tom
sein hageres Gesicht kriecht fast in den Bildschirm, die schlanken
Finger schweben über der Tastatur. Herman lässt ihn allein, zieht die Tür zu
und ballt triumphierend eine Faust. Stunden vergehen, Herman läuft in der Küche
auf und ab, isst vor lauter Nervosität scheibenweise selbst gemachte
Zitronen-Pistazien-Polenta und blättert in Kochbüchern herum. Er schleicht zum
Zimmer mit dem Computer, legt das Ohr an die Tür, hört langsames Tippen auf der
Tastatur. Es ist fast zwei Uhr morgens, als Jimmy herauskommt. Der Artikel ist
fertig, aber nur auf dem Bildschirm, er weiß nicht, wie der Drucker
funktioniert. Er ist müde, sagt Gute Nacht und geht ins Bett.
Ende der achtziger Jahre hatte
sich Deb von Jimmy scheiden lassen. Ein paar Jahre später heirateten sie
wieder. Aber bald darauf verließ sie ihn ein zweites qualvolles Mal, und Jimmy
zog nach Los Angeles, um von allem loszukommen. Er lebte von Aufträgen als
freier Rechtsberater, was ihn vor Schulden bewahrte. Aber er war nicht krankenversichert,
und als sich ein Backenzahn entzündete, riss er ihn selbst heraus, mit einer
Justierzange. Er war sturzbetrunken bei der Aktion und vermasselte sie, der
Zahn splitterte und blieb in Bröckchen im blutigen Zahnfleisch stecken. Herman
rief zufällig ein paar Tage später an und erfuhr von dem Zahn und dem
nachfolgenden Fieber. Er flehte Jimmy an, ins Krankenhaus zu gehen. In der Notaufnahme
hieß es, der Zahn sei vereitert. Als er auf den Bereitschaftszahnarzt wartete,
bekam er einen Herzinfarkt. Er war sechsundfünfzig, aber als er entlassen
wurde, war er ein alter Mann. In den Monaten danach alterte er weiter, wurde
vergesslich und ängstlich und argwöhnte ständig, von Leuten verfolgt zu werden.
Er kontrollierte ununterbrochen, ob die Türen und Fenster auch wirklich fest
verschlossen waren, ob der Gashahn zugedreht war. Er meldete sich immer öfter
krank in der Kanzlei, von der er seine Aufträge bekam, schließlich ließ er sich
pensionieren - genau genommen wurde es ihm aufgenötigt. Damals war Herman froh
darüber gewesen: Endlich konnte Jimmy sich ganz aufs Schreiben konzentrieren.
Er hatte immer gesagt, er würde das Buch zu Ende schreiben, wenn er erst mal
pensioniert sei.
Und jetzt ist er hier, im
Gästezimmer, und schläft. Noch immer keine Spur von einem richtigen Manuskript,
aber immerhin ein Vorgeschmack auf Jimmys Stil. Herman druckt den Artikel aus,
es sind nur zwei Seiten. Er reißt sie aus dem Drucker, läuft zum Sofa und lässt
sich hineinfallen.
Es dauert einen Augenblick,
bevor er sich auf den Text konzentrieren kann, so aufgeregt ist er. Wie viele
Jahre hat er darauf gewartet! Gut, es sind nicht mal hundert Zeilen, aber es
ist ein Anfang. Ob Jimmy wohl ein richtiges Manuskript in der Tasche da in der
Ecke hat? Herman würde nie schnüffeln, aber wie gern täte er es.
Er konzentriert sich auf die
Seiten.
Er liest sie durch.
Er hat vierzig Jahre lang
anderer Leute Texte redigiert. Er braucht nicht lange, um es zu merken. Der
Text taugt nichts.
Es ist eine Art Leitartikel,
nur ohne jedes klare Argument. Irgendwie geht es um L. A., um die Verbreitung
von Warfen in Amerika, um den Niedergang der Zivilisation. Er strotzt vor
Grammatikfehlern und Plattitüden. Er ist amateurhaft. Hat er den richtigen
Text ausgedruckt? Vielleicht ist das hier bloß eine erste Skizze? Er geht
wieder zum Computer. Neben dem Mousepad liegt ein zusammengeknüllter
Papierfetzen. Er streicht ihn glatt. Es sind alle möglichen Notizen in Jimmys
Handschrift, hingeschrieben, umgeschrieben, durchgestrichen, dazwischen Kritzeleien
und Fragezeichen und Striche und Kleckse und alternative Formulierungen.
Stundenlange Anstrengung für wertloses Geschreibsel.
In der Nacht kann Herman nicht
schlafen. Er sitzt aufrecht im Bett, macht das Licht wieder an, stopft sich
mit Bonbons voll, steht auf, putzt sich die Zähne noch einmal. Um sechs Uhr
springt er aus dem Bett - er will unbedingt aus der Wohnung sein, bevor Jimmy
aufwacht. Dann kann er sich den Text im Büro noch einmal vornehmen und
überlegen, was er machen soll.
Aber Jimmy steht schon in der
Tür zum Gästezimmer, wollte Herman abfangen, sagt er, da sei ein Rechtschreibfehler
in dem Artikel.
»Keine Bange, den finde ich«,
sagt Herman.
Jimmy will ihn unbedingt
selbst korrigieren. Er verschwindet im Zimmer mit dem Computer, erledigt seine
Korrekturen und drückt Herman einen USB-Stick in die Hand.
Kaum im Büro, jagt Herman eine
E-Mail an Kathleen, er kriege
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