Rachmann, Tom
weißt du schon.«
Sie weicht aus. »Was«, sagt
sie hastig, »was redest du denn?«
»Du - du bist so getrieben.
Wie ein Maulwurf, der in der Erde herumgräbt, Hauptsache vorwärts. Aber ich
kenne dich doch genau.« Er lächelt wieder. »Ich weiß noch genau, wie du
aufwachst. Wie du schläfst. Wie du im Kino Schluckauf kriegst.«
Ihr fehlen die Worte.
»Aber es macht mich traurig«,
schließt er. »Du machst mich ein bisschen traurig. Ich liebe dich noch immer,
aber wir werden nicht wieder anfangen.«
Sie spürt Tränen aufsteigen.
Ganz leise sagt sie: »Danke.« Sie wischt sich die Nase. »Wenn ich einmal alt
und klapprig bin, dann kommst du, um mir die Hand zu halten. Machst du das?
Das ist dann dein Job. Okay?«
Er nimmt ihre Hand und küsst
sie. »Nein«, sagt er. »Wenn du alt und klapprig bist, bin ich längst weg. Ich
halte sie jetzt, für später, wenn dir nur die Erinnerung daran bleibt.«
1962. Corso Vittorio, Rom
Der Newsroomlärm drang bis in
Bettys Büro: das wiehernde Gelächter und das Tratschgeraune, das Klappern und
das »Bing« der Schreibmaschinen, das Scheppern, wenn die Redaktionsboten die
Kristallaschenbecher in die Mülltonne leerten. Sie saß am Schreibtisch,
unfähig zu arbeiten, ihre Lebensgeister waren über jedes vernünftige Maß
hinaus erloschen.
Lächerlich - so fühlte sie
sich. Absolut lachhaft. Sie hatte nicht das Recht, noch immer zu trauern. Sich
darauf zu versteifen, dass sie und Ott eine ganz besondere Beziehung gehabt
hatten. Gemeinsam Bilder betrachtet hatten. Und was war mit den gemeinsamen
alten Zeiten in New York?
Aber das Gefühl, vermutete
sie, kultivierte doch jeder hier - dieses überdimensionierte Gefühl, in Otts
Leben bedeutend gewesen zu sein. Genau diese Wirkung hatte er auf andere. Seine
Aufmerksamkeit war wie ein Scheinwerfer: Alles andere blieb gedimmt.
Sie hatte umgekehrt nie eine
solche Macht über ihn gehabt. Er hatte sie in New York sitzenlassen, war nach
Atlanta zurückgekehlt, seinem Leben aus Profit und Expansion nachgegangen. Er
hatte geheiratet, einen Sohn gezeugt. Sie hätte ihn einfach vergessen sollen,
sein Weg-Sein hätte ihr nicht so viel ausmachen dürfen und nicht so dauerhaft.
Irgendwann war sie schließlich selbst aus New York weggegangen, nach Europa, um
über Hitlers Krieg zu berichten. In London hatte sie einen Landsmann
kennengelernt, Leo, auch er Reporter. Sie hatten geheiratet. Nach dem Krieg
waren sie nach Rom gezogen, und Betty trank bald mehr Campari, als sie sich
beim ersten Schluck von dem Zeug vorstellen konnte, und schrieb weniger, als
sie vorgehabt hatte.
Dann war Ott plötzlich wieder
aufgekreuzt, und seine Gegenwart. hatte all ihre kleinen Kompromisse über die
Jahre nur noch schlimmer gemacht und gleichzeitig eine Erlösung davon geboten.
Sie wollte wieder schreiben und glaubte, dass sie es noch konnte. Ott machte
sie zur Stimme der Zeitung. Leo bekam zwar den Titel Chefredakteur, aber jeder
wusste, dass Betty der Kopf des ganzen Unternehmens war. Mit Ott auf der
anderen Seite des Newsrooms erwachte sie wieder zum Leben. Aber außerhalb der
Zeitung?
Ott hatte nie den Versuch
gemacht, wieder etwas mit ihr anzufangen. Die gemeinsamen Ausflüge zum
Bilderkaufen, die Mittagessen in seiner Villa - sie bedeuteten nichts. Sieht
man doch, rief sie sich selbst in Erinnerung, er hat mir ja nicht mal erzählt,
dass er krank ist. Nie um Hilfe gebeten. Nie Kontakt gesucht, als er im Sterben
lag. Ich habe in seinem heben keine solche Rolle gespielt. Ich habe kein Recht
auf eine solche Trauer.
Eines Abends, als Leo mit den
Kollegen auf Sauftour war, hatte Betty ein Taxi hoch zum Aventin genommen und
vor dem spießbewehrten Eisenzaun gestanden, der Otts alte Villa umgab. Da war
jetzt nichts mehr drin. Nur noch die Gemälde, die sie gemeinsam gesammelt
hatten: Modiglianis schwanenhalsige Zigeunerin, Legers Weinflaschen und
Bowlerhüte, Chagalls akrobatische blaue Hühner und smaragdene Fiedler,
Pissarros behagliches englisches Pfarrhaus mit dem Schornstein, aus dem sich
der Rauch kringelt, Turners schwappendes Wrack — sie hingen alle noch da,
unnütz, im Dunkeln. Sie hatte lange auf die Klingel gedrückt, sie in dem leeren
Haus gehört, genau gewusst, wie sinnlos das war, und trotzdem weiter gedrückt,
bis ihr Finger blutleer und weiß geworden war. Da hatte sie losgelassen. Und
das Haus lag wieder im Schweigen.
Ohne Ott strebten Bettys und
Leos Ansichten, wie die Zeitung geführt werden sollte, immer
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