Rachmann, Tom
weiter
auseinander. In der Redaktion hielten sie ihre Zwietracht noch gerade so eben
verborgen. Und so reagierten sie mit Bangen auf die Ankündigung eines Besuchs
aus der Konzernzentrale in Atlanta: Otts Sohn Boyd wollte den Sommer 1962 in
Rom verbringen, bevor er zum Studium nach Yale ging.
Leo wollte sich unbedingt
beliebt machen, stellte allerlei Glamour-Termine zusammen, um den jungen Mann
zu beeindrucken, und schickte ein paar Büro-Putzfrauen auf den Aventin, die
alte Villa vom Staub befreien.
Als Teenager war Boyd jeden
Sommer nach Rom geflogen und hatte einige Wochen bei seinem Vater gewohnt. Für
ihn erreichten die Besuche ihren Gipfelpunkt, wenn er allein mit seinem Vater
reden durfte. Boyd sog noch die beiläufigste Bemerkung von Cyrus Ott als
lupenreine, unumstößliche Wahrheit auf. An jedem Ferienende wollte er
sehnlichst dableiben, die Schule in Atlanta schmeißen, bei seinem Vater in Rom
leben. Aber von seinem Vater kam nie eine Einladung. Auf jedem Rückflug machte
der Teenager sich selbst gnadenlos nieder, wenn ihm seine eigenen dummen
Bemerkungen wieder einfielen, sich in sein Gedächtnis bohrten und ihn als
Idioten dastehen ließen, als Blamage.
Jetzt, zwei Jahre nach dem Tod
seines Vaters, war Boyd wieder in Rom und ein junger Mann. Zur Überraschung
aller verschmähte er Otts alte Villa und zog lieber ins Hotel. Er zeigte auch
keinerlei Interesse, mit Leo und den Zeitungsleuten um die Häuser zu ziehen.
Er lehnte Alkohol ab, aß nicht gern und war vollkommen humorlos. Zweck seiner
Rom-Reise sei, erklärte er, das Zeitungsgeschäft zu erlernen. Aber er schien
sich eher fürs Ott-Geschäft zu interessieren. »Was hat mein Vater davon
gehalten?«, wollte er wissen. »Und was hat er hierzu gesagt? Was für Pläne
hatte er für die Zeitung?«
»Mir kommt der Bengel
irgendwie zornig vor«, ließ Betty fallen. »Kriegst du das überhaupt mit?«
»Also, ich finde ihn
sympathisch«, entgegnete Leo streitlustig.
»Danach hatte ich nicht
gefragt.«
Betty und Leo trennten sich
erst, als Boyd nach Atlanta zurückgeflogen war. Ihr Lieblingskommentar dazu
war: Ich hob den Plattenspieler behalten, er die Zeitung.
Betty zog zurück nach New York
und kam bei einer Frauen- Zeitschrift unter, deren Spezialität
Rezepte mit Dosenpilzsuppen waren. Sie durfte Artikel redigieren. Sie fand eine
Einzimmerwohnung in Brooklyn, die auf den Schulhof einer Grundschule ging, und wurde an jedem Werktag von Kinderkreischen
geweckt. Dann nahm sie den Morgenrock vom Nagel an der Tür, setzte sich ans
Fenster und sah hinunter: auf Jungs, die sich erst keilten und dann ihre
blutigen Kniescheiben untersuchten, auf Mädchen, die neu
dazugekommen waren und mit tief in den Schürzentaschen vergrabenen Händen nach
Freundinnen suchten. Nach Rom ging Betty nie mehr zurück.
Das S exleben islamischer extremisten
Winston
Cheung, Reporter in Kairo
ER LIEGT UNTER DEM
DECKENVENTILATOR UND grübelt, wie er es anstellen soll. In Kairo passiert
tagtäglich Nachrichtentaugliches. Bloß wo? Und wann? Er hängt seinen Laptop
ans Netz, liest sich online durch die Lokalzeitungen und ist immer noch wirr im
Kopf. Diese Nachrichtenkonferenzen - wie kommt man da rein? Und wie kommt man
an offizielle Statements? Er schlendert durch sein Wohnviertel Ez-Zamalek und
spekuliert auf eine Bombenexplosion - nicht allzu nahe natürlich, im sicheren,
aber mitschreibfähigen Abstand. Damit käme er auf die Titelseite und an seine
erste Autorenzeile.
Aber keine Bombe geht hoch.
Auch die nächsten Tage nicht. Er kontrolliert dauernd seine E-Mails, rechnet
fest mit einem flammenden Memo von Menzies und der Frage, was zum Teufel er
eigentlich treibt. Stattdessen findet Winston eine Mail von einem Rieh Snyder,
der sich offenbar ebenfalls auf die Reporterstelle in Kairo bewirbt,
ankündigt, dass er auf dem Weg sei, und mit dem Satz schließt: »Kann's kaum
erwarten, dich zu treffen!«
Immerhin freundlich, denkt
Winston. Aber waren wir verabredet? Er formuliert eine herzliche Antwort: »Ich
hoffe, du hast einen ruhigen Flug. Grüße, Winston.«
Die Antwort kommt prompt:
»Kannst mich hoffentlich abholen! Bis dann!« Darunter Flugnummer und Ankunftszeit.
Winston
soll den Mann auch noch vom Flughafen abholen? Sie sind doch Konkurrenten!
Vielleicht gehört das zur professionellen Höflichkeit. Niemand von der Zeitung
hat ihm was davon gesagt. Andererseits, er hat ja keine Ahnung, wie
Journalismus geht. Und weil er sonst nichts zu tun
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