Rachmann, Tom
Deckung. Kein Mensch
jault auf- Ziel verfehlt. Jetzt die Apfelsine. Wieder kein Volltreffer. Dann
schmeißt sie die Tomate, und die landet punktgenau und verspritzt ihre
stinkenden Innereien. Ruby duckt sich unter die Fensterbank. Die Bauarbeiter
fluchen eine Minute lang und rennen durcheinander, auf der Suche nach dem
Angreifer. Sie stellen das Radio aus.
»Sieg«, sagt sie.
Dann geht das Radio wieder an,
die Bauarbeiter sind genauso laut wie vorher, und Ruby ist hellwach.
Sie setzt sich aufs Klo. »Was
sind das bloß für Leute?«
Die Dusche sirrt und setzt das
Badezimmer unter Dampf. Sie zieht sich aus, der Anblick ihres Körpers demoralisiert
sie. »Ich gehe immer mehr auseinander.« Sie schrubbt sich unter der Brause
kräftig ab und wandert dann missmutig und tropfend im Bad hin und her.
Sie fährt mit dem Bus zur
Piazza del Popolo und geht das Stück zum Kino Metropolitan zu Fuß. Da läuft der
neueste James Bond, >Casino Royale<. Sie betrachtet das Plakat. Was ist
schlimmer, in einem knallvollen oder in einem leeren Kino allein einen Film
anzusehen? Und wenn da jemand drinsitzt, den sie kennt? Irgendein Kollege? Der
Wutausbruch wegen Oliver Ott fällt ihr wieder ein. Lieber in die Redaktion
fahren und E-Mails durchsehen? Der hat sich doch bestimmt bei Kathleen
beschwert. Das wär's dann gewesen. Die werden sie feuern. Wenn man sich mal
ausmalt, was man alles tun kann, wenn man von dieser Zeitung befreit ist. Aber
Ruby kann sich gar nichts ausmalen - sie hasst diesen Job und diesen Newsroom
seit Jahren und hat trotzdem keinerlei Vorstellung von einer Zukunft draußen.
Sie schaut um sich. Und wenn
Dario sie jetzt hier sieht, vor diesem Kino, allein, an Silvester? Wenn der
genau jetzt gerade mitsamt seiner Familie die Via del Corso entlangschlendert?
Sie ergreift die Flucht, rennt die Via Ripetta hinunter, nimmt Abkürzungen
durch Seitenstraßen und steht schließlich auf der Piazza San Salvatore in
Lauro. Die Wintersonne scheint auf die Piazza und legt ihre Wärme darüber wie
eine Tischdecke. Mit einer Hand schützt Ruby die Augen gegen das Licht. Auf dem
Lungotevere braust der Verkehr. Passanten gehen vorbei, schweigend,
respektvoll. Die breitschultrige Kirche da, die liebt sie sehr - sieht aus, als
hätte sie all die schmuddeligen Autos vor ihren Stufen einfach beiseitegekickt.
Ein schlichtes Kruzifix auf dem Giebel, Erzengel unter dem Fries, Steinsäulen
neben dem schweren Holzportal.
Sie geht weiter, friedlich,
auf ruhigen Gedanken dahingleitend, den Blick auf die Schuhe gerichtet, die
immer abwechselnd unter ihr auftauchen. Sie geht über die Tiberbrücke und
mischt sich unter die Menge, die in den Petersdom strebt. Die gewundenen
Kolonnaden des Petersplatzes nehmen die Pilgerreisenden in ihre Arme, im
Hintergrund ragt die Basilika auf, ein steinerner Obelisk weist in die Wolken.
Aber heute ziehen der Weihnachtsbaum und die Krippe mitsamt dem vom Spotlight
ausgeleuchteten strampelnden Jesuskind alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Menge
drängelt zur Krippe, und Ruby bewegt sich mit, aber nicht wegen des Tableaus,
sie studiert die wogende Menge: Papis, die ihre Camcorder über den Futtertrog
schwenken, Nonnen, die in den Anblick der drei Weisen versunken sind, Teenager,
die sich Zoten über Esel in biblischen Zeiten zutuscheln. Jeder sucht nach dem
Platz mit der besten Sicht, nur Ruby schließt die Augen, taucht ein in die
Menge, streift Hände von Fremden - nur kurz, nicht so lange, dass irgendjemand
etwas merkt, nur in flüchtigen Streicheleinheiten.
Zu Hause holt sie die seit
Tagen gepackte Nottasche und stellt sie an die Wohnungstür. Es ist noch immer
zu früh, ins Hotel zu gehen. Sie überlegt, womit sie sich ablenken kann, greift
nach der Fernbedienung und der Decke und hat ungewollt wieder die Familienfotos
aus New York im Blick: Bilder von Pap, von Kurt, von ihr. Sie legt sie sich in
den Schoß, mit der Rückseite nach oben.
Die Arbeit geht ihr durch den
Kopf. Dave Belling. »Dieser Angeber«, murmelt sie. Mit seinem heimatverbundenen
Südstaaten-Countryboy-Scheißdreck. Sie beißt die Zähne zusammen. Clint Oakley.
»Dreckiges Arschloch.« Diese Typen sind bestimmt alle selig, wenn sie fliegt.
»Und ich erst, im verdammten siebten Himmel.« Nie mehr einen Fuß in diese
Müllkippe setzen müssen.
Sie dreht die Fotos um. Auf
dem ersten ist Kurt, ihr ein Jahr älterer Bruder. Er hatte ihr die Fotos
geschenkt, bei Paps Beerdigung. »Wir können sie uns doch teilen«, hatte
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