Rachmann, Tom
ist. Ist bloß noch eine Frage der Zeit.
Sie guckt ihr Handy an. Sie
könnte Kurt in Queens anrufen und ein glückliches neues Jahr wünschen. Und dann
fragt der womöglich, was sie so macht und auf was für einer Party sie gerade
ist.
Sie holt sich die Flasche
Drakkar Noir aus dem Kulturbeutel, tropft sich etwas davon in die Hand und
reibt sich die Wangen damit ein. Sie schließt die Augen und atmet tief ein. Vor
einigen Monaten war sie Dario zufällig über den Weg gelaufen, auf der Via dell'Umiltá;
sie hatten sich jahrelang nicht gesehen. Er hatte gelacht, weil sie sich immer
noch an sein Drakkar Noir erinnerte. »Das nehm ich schon ewig nicht mehr«,
hatte er gesagt.
Sie klappt das Handy auf und
sucht seine Nummer. Wählt sie nicht, hält sich nur das Handy ans Ohr. »Hallo«,
sagt sie zur toten Leitung, »könnte ich bitte Dario sprechen? Hey, Dario, ich
bin's. Wenn du Lust hast vorbeizukommen, herzlich gern.« Ist ein ganz nettes
Hotel hier. Im Ernst. Ich will aber nicht, dass du Ärger kriegst. Einen mit dir
zu trinken neulich, das fand ich schön. »Und wenn du einfach kurz vorbeikommst?
Nur für ein paar Minuten?« Ich bin sowieso ziemlich müde.
Sie ruft ihn vom Hoteltelefon
aus an, damit er ihre Nummer nicht erkennt.
Er geht dran. »Pronto?«
Sie antwortet nicht.
»Pronto?« sagt er noch einmal. »Chi e? ... Pronto?«, Pause. »Non rispondi?« Er legt auf. Sie ruft noch einmal an. »Chi e?«, fragt er. »Che vuoi?«
»Schrei mich nicht an«,
erwidert sie auf Englisch. »Hier ist Ruby.«
Er seufzt. »Es ist mitten in
der Nacht. Und Silvester. Warum rufst du an?« Sie schweigt.
»Fünfzig Mal hast du angerufen in den letzten Wochen,
Ruby. Fünfzig Mal.«
»Entschuldige.«
»Warum rufst du mich an?«
»Einfach weil.«
»Antworte.«
»Entschuldige.«
»Lass die Entschuldigungen. Beantworte meine Frage.
Das wird allmählich lächerlich. Fünzig Mal. Hast du irgendwas zu sagen?«
Sie kann nicht sprechen.
»Ruby, ich bin verheiratet.
Ich bin nicht auf der Suche nach jemandem. Ich möchte nichts mit dir zu tun haben.
Ich möchte nichts von dir hören, ich möchte dich nicht sehen. Ich möchte nicht
wieder was mit dir trinken gehen. Ich möchte, dass du diese Nummer nie wieder
anrufst. Bitte.«
»Dario.«
»Wenn du mich noch einmal
anrufst, muss ich -« Aber sie hat aufgehängt.
Sie findet eine Nagelfeile im
Kulturbeutel und bohrt sie sich in den Schenkel, bis die Haut reißt. Sie
stochert die Wunde größer, dann tupft sie das Blut mit Klopapier ab und wäscht
sich die Hände unter brühheißem Wasser.
Am nächsten Morgen klopfen die
Zimmermädchen sie wach.
»Jetzt noch nicht«, murmelt
sie und schläft wieder ein.
Die Rezeption ruft an. Es ist
nach zwölf. Sie hat den Check-out verschlafen.
Sie kann Darios Cologne noch
an sich riechen. Beim Anziehen reibt ihre Hose über die Schnittwunde an ihrem
Schenkel. Keine Zeit zum Duschen. Sie stopft ihre Habseligkeiten zurück in die
Nottasche, sieht in den Spiegel, versucht, die Haare zu irgendeiner Frisur zu
kämmen. »Mein letzter Tag in der Zeitung.« Es ist der erste Tag im neuen Jahr,
um zwei Uhr beginnt ihre Schicht. »Heute ist der Tag.« An dem die sie feuern.
Sie rollt ihre Reisetasche die
Straße entlang. Sie könnte vorher noch nach Hause und duschen, aber sie geht
lieber zum Petersplatz. Die Neujahrsansprache des Papstes ist vorbei, die Menge
zerstreut sich. Ruby schlendert durch Wogen von Menschen mit gelben
Vatikantüchern um den Hals. Die Basilika steht da wie ein Thron, die Menschheit
liegt zu ihren Füßen. Macht Erinnerungsfotos zuhauf. Scheucht Ruby aus dem Weg.
»Pardon, könnten Sie mal kurz?« Sie weicht seitwärts aus. »Entschuldigung,
jetzt sind Sie bei mir im Bild.«
Sie hofft auf ein romantisches
Paar, das von ihr geknipst werden möchte. Das hat sie so gern - einen Moment
lang in ihrer Gemeinschaft zugelassen sein. Aber niemand bittet sie. Zwei
junge Mexikaner wollen sogar das Foto lieber selbst machen, der Mann hält
einfach die Wegwerf-Kodak vor sich und seine neue Frau. Dann zählt er, und als
er bei null ist, schiebt Ruby - sie steht etwas entfernt hinter ihnen - eine
Hand in den Bildhintergrund. Die Kamera blitzt auf, sie zieht die Hand wieder
weg, hat keiner gemerkt. Wenn die beiden zu Hause sind, wird auch Ruby immer da
sein.
Als sie in die Zeitung kommt,
ist der Newsroom leer bis auf Menzies. Sie fährt ihren Computer hoch und macht
sich nicht mal die Mühe, ihren Arbeitsplatz zu desinfizieren. Die
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