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Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Unperfekten
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Ruby
gesagt.
    »Och, lass mal.«
    »Behalt doch wenigstens ein
paar.« Er hatte auch erzählt, dass Pap in seinen letzten zweiundsiebzig
Stunden furchtbar geschrien hatte. »Und was hat er gesagt?«
    »Dass er nicht sterben will. Hat eine richtige Szene
gemacht im Krankenhaus.«
    »Das hättest du mir lieber nicht erzählen sollen,
Kurt.«
    »Es hätte doch sowieso nichts gebracht.«
    »Was?«
    »Dass du wieder herkommst, bevor er tot ist.«
    Ruby war tatsächlich in
Italien geblieben, als ihr Vater krank wurde - sie hatte auf ein Wort von ihm
gewartet. Pap sollte Reue zeigen. Während seiner letzten Lebenstage rief sie
ständig bei Kurt an, halb in der Hoffnung, dass Pap noch nicht tot war, halb in
der Hoffnung, dass er es doch war. Die Beerdigung fand auf dem Friedhof von St.
Mary Star of the Sea statt, an der Schnellstraße nach Rockaway. Es war Juli und
heiß, und Ruby hatte Angst, dass alle Welt sah, wie sehr sie schwitzte.
Stattdessen schloss alle Welt sie in die Arme: Cousins und Neffen und Kids. Sie
war doch die Tochter des Verstorbenen. Kurt saß neben ihr und drückte ihr beim
Gottesdienst ein paar Sekunden lang fest die Hand.
    Sie blieb noch vier Tage in
Queens. Kurt nahm sich frei und fuhr mit ihr überallhin. Im Astoria Diner aßen
sie dasselbe wie als Kinder, Pommes frites mit Soße hatten sie damals immer
genommen und noch literweise Ketchup und Essig drübergespritzt und das Ganze
mit gespitzten Mäulchen weggeputzt. Jetzt als Erwachsene durften sie nehmen,
was immer sie wollten. Und nahmen wieder die Pommes frites mit Soße.
    Die ganze Familie wollte Ruby
sehen und ihre Meinung, ihren Rat hören. »Tante Ruby, erklär doch mal unserem
selbst ernannten Meisterkoch Bill, wie richtiges italienisches Essen geht.«
Und: »Rube, red du mal mit Kelly über Rucksackreisen durch Europa. Ich trau dem
Bengel nicht, mit dem sie da hin will.«
    Ruby schloss ihrerseits alle
Welt in die Arme. Sie kniff den ganz Kleinen ins Kinn, hob sie sich aufs Knie,
hörte sich Geschichten an, die vertraulich gewispert wurden und ihr das Ohr
wärmten. Alle Welt fand sie so klug und kosmopolitisch. Sie bekam Angst, eines
Tages nach Queens, nach Hause zurückzuziehen - dann würden sie sie durchschauen,
kämen dahinter, dass das alles eine Lüge war und sie bloß ein gewöhnlicher
Mensch.
    Am letzten Tag der Reise ging
sie für alle Welt ein kleines Dankeschön kaufen. Und was sie schenkte, war
nicht einfach ein Zeichen der Großzügigkeit, sondern der Aufmerksamkeit - sie
hatte allen genau zugehört. Kurt bekam ein GPS fürs Armaturenbrett, das einzige
Modell, das in seinen Toyota Sprinter passte; Kelly die lang ersehnte Nikon
Coolpix II und einen Geldgürtel, damit sie sicher durch Europa kam; und die
kleinen Nichten und Neffen bekamen allesamt genau die richtigen Videospiele und
Bücher und DVDs. Die Kinder wollten sie überhaupt nicht gehen lassen, und die
Erwachsenen wollten wissen, wann sie endlich wieder nach Hause, nach New York zog.
    Auf dem Rückflug nach Rom nahm
sie sich vor, die alten Fotos, die Kurt ihr mitgegeben hatte, digitalisieren zu
lassen und ihm zu mailen - irgendwer aus der Bildredaktion konnte ihr bestimmt
zeigen, wie das ging. Sie schrieb im Kopf schon die E-Mail: »Mein großer
Bruder, auch wenn Du die jetzt nicht haben willst, vielleicht willst Du sie
später mal. Und dann wirst Du mir dankbar sein! Vielleicht hätten die Kinder
sie gern. Alles Liebe, Rube. P. S.: Schreib mal, ob das hier angekommen ist.«
    Nach Paps Beerdigung fühlte
sie sich leicht und vollgepumpt wie ein Ballon, aber kaum war sie wieder in
der Redaktion, war alle Luft raus. Sie hatte eine Lawine von E-Mails aus dem
Kulturressort (damals noch von Clint Oakley geleitet), es ging um etwas, das
sie vor der Reise redigiert hatte. Clint hatte die Beschwerden auch alle cc an
Kathleen geschickt, um Ruby zu demütigen. »Hätte er das nicht mit mir direkt
besprechen können, wie ein anständiger Mensch?« Das Elend am Arbeitsplatz
sickerte bis in die Nachtstunden und riss sie vor Zorn im Dunkeln aus dem
Schlaf. Auch Pap saß ihr im Kopf, in Bildern, die sie seit Jahren nicht mehr
heimgesucht hatten: Pap, wie er die Schranktür aufzieht und ihr die Tasse
zeigt, in der er Zähne von Menschen aufbewahrt; Pap, wie er auf der Herdplatte
einen Löffel warm macht; Pap, wie er zum Priester sagt: »Schauen Sie mal, mein
Mädchen erblüht.«
    Beim Anblick der Familienfotos
in ihrem Schoß verspürt sie den dringenden Wunsch, sich die Hände zu

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